Ihr Lieben,
manchmal bin ich ja ein bisserl verpeilt. Stand doch für heute auf dem Programm, dass ich eine geführte E-Bike-Tour unternehme. Ich weiß nicht, was ich da für eine Vorstellung von hatte. Dass ich eine Rohkostplatte bestelle und dafür ein Nudel-Gratin bekomme? Sorry, ein sehr blöder Insider-Joke (solltest Du mitlesen, R.: ich liebe Dich, meine Häsin!!). Auf deutsch: Ich glaubte, ich würde eine halbe Stunde durch Mindelo radeln, jedoch, als ich gestern noch einmal in die Reisebeschreibung schaute, war da von 5 Stunden Inselrundfahrt (5!!!) die Rede. Ach Du liebe Güte! Prompt stieg wieder mein Stresshormonlevel! Ich schwöre: mein nächster Urlaub wird 3 Wochen all-inclusive auf Djerba und ich werde die Clubanlage nicht verlassen!
Ich mache es kurz: Nach der Rückkehr ins Hotel konnte man mich eigentlich als Restmüll entsorgen. Aber Ihr wollt ja bestimmt auch virtuell mitradeln, daher ein bisschen ausführlicher.

Um 10 Uhr holte mich Marcio am Hotel ab und wir liefen ein paar Schritte zum Fahrradverleih. Marcio war wie aus einem Fitnessstudio-Prospekt entsprungen. Mir schwante übles. Ich wies ihn darauf hin, dass ich jetzt nicht die größte Sportskanone unter der Sonne sei. Als müsste ich das extra erwähnen… Naja, er versicherte mir, alles ginge nach meinem Tempo. „No Stress“, wie man dauernd hier zu hören bekommt. Das ist der tatsächlich gelebte Nationalhymnus für alle Lebenslagen. Wir kommen da noch drauf zurück.
Die Fahrräder waren jetzt nicht gerade letzter Stand von Wissenschaft und Technik, bei Marcio fiel nach einem Meter die Kette ab (das sollte noch öfter passieren) und auch die Elektrik hakelte. Bei meinem Rad schien soweit erst einmal alles okay. Los ging’s. Wir fuhren durch die Innenstadt Richtung Nordosten, unser erstes Ziel sollte das Fischerdorf Salamansa sein. Es wehte ein ausgewachsener Sturm, und das in unser Gesicht. Aber kein Problem, wir hatten ja E-Bikes. Übrigens, eine Premiere für mich, bin ich noch nie mit gefahren. Dann kam eine nicht enden wollende 10%-ige Steigung zum Sturm dazu, da half dann auch die Tritt-Unterstützung, oder wie auch immer das heißt, nicht mehr. Ich fiel deutlich zurück, hatte erste Nahtoderfahrungen, denn die Pumpe drohte zu platzen. Und das nach etwa 2 von 7246 Kilometern. Marcio kehrte um und brachte mir bei, dass es da noch einen Speed-Gashebel gibt. Achso, aha. Mit dem war es zwar auch kein Zuckerschlecken, aber ich konnte mich dann wenigstens im Schneckentempo unter viel Gestöhne fortbewegen. Wie die Band Blood, Sweat and Tears aber schon 1968 wusste: „What goes up, must come down“ und heia! rasten wir bergab. Das sollte auch der schlimmste Part der Strecke gewesen sein.







Man darf sich Fischerdörfer hier jetzt nicht so idyllisch wie auf griechischen Inseln vorstellen. Ein Mix aus bunten Häusern, Rohbauten, viel Gewusel, kein Tinnef. Die Fischer können hier nicht an der Küste Ihre Beute einholen, das Meer ist mit Plastik verseucht. Sie fahren für mehrere Tage weiter hinaus, Richtung der unbewohnten Insel Sta. Lucia, um dann hoffentlich mit reichem Fang zurückzukehren. Damit dieser nicht vergammelt, brauchen sie Tonnen von Eis, das im Ort in Kooperation mit einer japanischen Firma produziert wird. São Vicente hat kaum eigenes Wasser, daher gibt es auch nur wenig Landwirtschaft. Meerwasserentsalzungsanlagen und ein bisschen Grundwasser stellen die Versorgung sicher. Als wir ankamen, war gerade Wasserverteilungsorgie, das halbe Dorf füllte Kanister mit Trinkwasser aus dem einen Reservoir und Brauchwasser aus dem anderen.
Wir fuhren weiter nach Baia das Gatas, Zentrum der Welsfischerei, auf portugiesisch „peixe-gatas“, catfish. Hier gibt es überdurchschnittlich warme, natürliche Schwimmbecken, daher ist der Ort auch als Badeparadies bekannt. Ein langer Steg führt ins Meer hinaus, den fuhren wir bis zum Ende, wo wir einen jungen Schweizer trafen, der auch eine geführte Inselrundfahrt, aber mit einem Auto gebucht hatte. Gott, war ich neidisch! Wir begegneten ihm dann noch ein paar Mal wieder, da sturzbachartige Regenfälle im Sommer des Jahres viel Zerstörung angerichtet hatten, unter anderem wurden Teile der Straßen weggeschwemmt. Daher kamen wir mit den Rädern fast genau so schnell voran.





Die sich anschließende Strecke nach Calhau ist ein Traum! Auf und ab, in leichten Kurven immer am Meer entlang. Wilde und unberührte Natur. Einen Zwischenstopp mchten wir in Norte 1, wo ein Künstlerkollektiv aus mehreren Ländern einige der Häuser bemalt hat. Marcio engagiert sich hier in einem Hilfsprojekt, da der Ort durch das Unwetter abgeschnitten war und einige Bewohner vieles, wenn nicht sogar alles verloren hatten. Es gibt immer noch Vermisste. In Calhau besuchten wir die Außenanlage der Schildkrötenrettungsstation. Es gab zwei sehr große Stammgäste, die zum Wiederauswildern zu verletzt waren. Daneben ein kleineres Becken mit zwei Babyschildkröten, die dort abgeliefert wurden. Die beiden großen Tartarugas lagen ganz unten im Becken, aber als ich eine Spende in den bereitgestellten Kasten warf, tauchte die armlose auf und nickte mir zu. Ich schwöre! Selbst Marcio war ganz perplex: „She seems to say Thank you!“. Schildkrötenweibchen legen zwischen 80 ud 120 Eier. Vom Nachwuchs überlebt durchschnittlich wohl nur ein Prozent, es gibt zu viele Fressfeinde. Und natürlich den Menschen.









Ab Calhau geht es dann für etwa 15 Kilometer über Kopfsteinstraßen. Leute, mich hat es dermaßen durchgeschüttelt! Inzwischen taten mir auch Schulter und Nacken weh, ich bin die für mich unnatürliche Haltung auf dem Fahrrad nicht gewohnt. Und ich schwächelte. Ich hielt an und probierte, ob der E-Schub noch funktionierte. Er tat es nur sehr mau. Marcio tauschte das Rad mit mir, er sei ja trainierter. Und boooom, ging die Post ab, sein Antrieb war viel stärker als meiner. So stellten wir fest, dass auch mein Pedelec von Anfang an nicht ganz in Ordnung war.
Nach einer ermüdenden Kopfsteinpflasterfahrt, auf der ich von Autos träumte, erreichten wir wieder die Außenbezirke Mindelos. Hier ist der riesengroße Friedhof der Stadt. Ich bat um einen Stopp, um das Grab Cesária Évoras zu besuchen. Marcio hatte etwas Probleme, es zu finden, aber ein Passant zeigte es uns dann, sie wurde wohl zwischenzeitlich umgebettet. Für eine so berühmte Künstlerin ist es ein sehr schlichtes, bescheidenes Grab. Ihre Mutter und ihre Tochter sind dort ebenfalls bestattet.




Ja, und dann waren wir endlich wieder in Mindelo. Ich weiß, für andere wäre das ein Spaziergang gewesen, aber mich konnte man dann wegschmeißen. Ich war total bematscht. Dennoch war es eine fantastische Tour. Marcio und ich tranken noch ein Bier zusammen und plauderten. Eigentlich arbeitet er an der Universität in Umweltforschungsprojekten. Ein wirklich toller Typ! Ich wobbelte dann wie so ein Slimy ins Hotel, ließ mich aufs Bett fallen und döste für zwei Stunden.
In der Stadt sollte heute ein Morna-Umzug stattfinden, Menschen versammeln sich und laufen Orte ab, an denen Musikgeschichte geschrieben wurde. Zum Start auf dem zentralen Platz kam ich wohl zu spät, aber durch Zufall stieß ich später darauf. Die Menge war ziemlich überschaubar, aber dennoch war es ein kleines Gänsehauterlebnis.

Nach Essen war mir heute überhaupt nicht (das muss man sich mal vorstellen!), daher kehrte ich erneut ins Hotel zurück, wo ich für Notfälle ja immer ein paar Kekse habe, und trank Wasser (das muss man sich mal vorstellen!).
Jetzt ist es gerade einmal mittlerer Abend und ich werde ins Bett kriechen, was aber passt, da ich um 6 Uhr für die Fährfahrt nach Santo Antão abgeholt werde. Und das mit dem No Stress? Das erzähle ich ein anderes Mal.
Bis morgen, wenn Ihr mögt, auf der zweiten Insel! Liebe Grüße, Euer
