Tag 15: Und Tschüss

Ardievu, Baltija!

Time to say goodbye, aber gaaaanz ohne Eile. Sarah Brightman tritt übrigens im November hier auf.

Das Frühstück im Hotel hat meinen Eindruck nahtlos fortgesetzt, Rührei aus dem Tetrapack, steinharte Eier, Croissants aus Gummi, kein Obstsalat. Das erste „a“ aus dem „Palace“ muss gestrichen werden, es ist einfach nur ein place.

Aber ich habe lange geschlafen, ich habe mich in den Tag rein gegammelt, habe spät gefrühstückt und mich ausgiebig stadtfein gemacht. Im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten.

Da die Sonne scheint (Breaking news!), habe ich den Museumsbesuch erst einmal verschoben und bin durch die Stadt gelaufen. Ich hörte mir das Glockenspiel des Rathauses an und habe anschließend noch einige schöne Stellen in der Altstadt entdeckt. Dann bin ich über die Vansu-Brücke nach Kipsala gelaufen, wo es die schönen Holzhäuschen zu sehen gibt, und bin dort ein wenig umhergeirrt.

Nutzloses Wissen, Band 6, Seite 234, Eintrag 4: Rigips wird Rigips genannt, da die ersten europäischen Gipskartonplatten dieser Art, die allerdings eine amerikanische Erfindung sind, in Riga auf Kipsala hergestellt wurden: Rigagips quasi. Also, was man hier alles lernen kann, das ist schon unglaublich! Vom anderen Daugava-Ufer aus hat man sehr schöne Blicke auf die Altstadt.

Ich bin wieder zurückgelaufen und habe an den Jakobsbaracken vor einer urigen Bar zwei Kaffee getrunken, handgebrüht, mal wieder ein ganz anderes Geschmackserlebnis. Hier konnte man wieder heiteres Nationalitätenraten betreiben. Die Deutschen habe ich ja an der Sprache erkannt, sie waren in der Regel sehr, sehr laut. Vor allen Dingen, wenn sie in reinen Männergruppen unterwegs waren. Man hätte sich vielleicht etwas schämen können. Aber die Briten oder Iren die ihnen folgten, mit nacktem Oberkörper laut grölend durch die Straßen torkelnd, haben die Scham schnell vertrieben. Irgendetwas skandinavisches torkelte hinter den Briten oder Iren hinterher. Auch hier von Benehmen keine Spur.

Um die Ecke der Bar lag das lettische Kriegsmuseum. Der Eintritt war frei, ich musste dringend, so kam eins zum anderen. Denn Achtung, Geheimtipp: Die Toiletten in Museen sind in der Regel immer besonders sauber. Die Ausstellung ist sehr gut gemacht, war aber deprimierend. Ist ja auch ein deprimierendes Thema.

Plakatwerbung für deutsche Kriegsanleihen

Am Nationalmuseum kam ich dann auch noch vorbei, aber es hatte nur bis 17 Uhr geöffnet und es war schon 15 Uhr 30. Also habe ich es mir nur von außen angesehen. Mir fiel auf, dass ich in der Nähe des Jugendstilviertels war und machte mich dorthin auf, denn beim ersten Besuch hatte ich es nur durch Regenschleier wahrgenommen.

Dann noch schnell die deutsche Botschaft fotografiert, zurück zum Hotel, Koffer abholen und auf zum Flughafen. Der Bus fährt samstags nicht so wahnsinnig regelmäßig, daher hat man mal einen kleinen dicken Gerald rennen sehen, als der Bus an ihm auf dem Weg zur Haltestelle vorbei fuhr. Aber hat geklappt! Der kann nämlich für sein Alter noch ganz schön flink sein. 🙂

Natürlich bin ich wie üblich viel zu früh am Flughafen, aber hier gibt es ein schönes Restaurant, ich hatte außer den angebissenen Sachen vom Frühstück ja noch nichts gegessen. Nicht, dass ich noch vom Fleisch falle…

So, das war dann mein Besuch im Baltikum. Es war, wie Ihr hoffentlich herauslesen konntet, ein tolles Erlebnis. Die Länder sind schön, die Leute sind nett, und selbst ein paar sehr gelungene Unterkünfte waren ja dabei. Und ich hatte mit dem Wetter wirklich Glück, es hätte ja 14 Tage lang so sein können wie gestern. Zwei Wochen sind eigentlich nicht genug, um alles in Ruhe zu erforschen. Die braucht man fast schon für jedes einzelne der drei Länder.

Im Laufe der nächsten Woche werde ich noch einen Link zu einem Fotoalbum hier einstellen, aber es wird dauern, die vielen Fotos, die ich gemacht habe, zu sichten. Ich hoffe, es hat Euch ein bisschen gefallen, mich zu begleiten. Und immer daran denken: freiwilliges Lesen des Reisetagebuchs befreit von der ansonsten verplichtenden Teilnahme am Dia-Abend mit 54.290 Bildern.

Bis zum nächsten Mal, Euer Gerald

Das Google-Street-View-Auto ist wieder unterwegs
Manchmal ergeben 2+2+1 eben 7

Tag 14: Der größte Wasserfall des Baltikums

Laipni lūdzam atpakaļ Rīgā!

Was für einen Unsinn habe ich da gestern geschrieben! Wettertechnisch schlechtester Tag! Ein Witz!!! Und was für Unsinn in den Reiseführern steht! Der größte Wasserfall des Baltikums, der ist nicht wahlweise 8 Meter hoch (Estland) oder 153 Meter breit (Litauen). Durch den größten Wasserfall des Baltikums bin ich heute stundenlang gefahren!

Während ich nach dem Aufstehen und beim Frühstück noch kurz überlegte, welche Schönheiten des Landes ich heute besuchen soll (das Schloss in Palanga oder das Schloss Rundale, den schönen Fischerort Ventspils oder den nordwestlichsten Zipfel der Rigaer Bucht bei Kolka), seufzte der Kellner etwas, das sich wie ein litauisches „ach du jeh“ anhörte, starrte aus dem Fenster, wir anderen dann auch und sahen…. den Wolkenbruch unseres Lebens. Naja, wird schon wieder vorbei gehen, wie immer an diesen Tagen. Hustepiepen! Es hatte sich eingeschüttet und hörte nicht auf. Ich hatte keine Lust auf Schlossparkbesuche, bei denen ich drohte, ins Meer gespült zu werden, und dachte, ich bringe besser den Wagen jetzt einfach zurück nach Riga, checke in meinem 4-Sterne-High-Level-Upper-Class-Palast ein, den ich mir extra für die letzte Nacht gegönnt habe. Und vielleicht ist es bis dahin schöner und ich kann einfach noch einmal gemütlich durch Riga gehen.

Die Fahrt war nicht wirklich entspannend. Schon in Klaipeda auf den Ausfallstraßen in vierspurigen Kreisverkehren, in denen man die Fahrbahnmarkierungen nicht mehr erkennen konnte, litt mein sensibles limbisches System unter den Belastungen sehr. Dazu die bereits angedeutete forsche Fahrweise der ansässigen Katholiken. Puh!

Und es hat 350 Kilometer und genauso viele Minuten lang mehr oder weniger wie aus Eimern gekübelt!

Wenigstens hat die Wagenrückgabe sehr gut geklappt. Schon heute morgen rief ich Hertz an, dass ich um 18 Uhr kein „meet and greet“ in einer obskuren Tiefgarage haben wolle, sondern den Wagen beim offiziellen Büro am Flughafen abgeben, damit ich zeitlich flexibler sei. Dies wurde sogar ausdrücklich begrüßt. Und als ich in Riga in strömendem Regen am Flughafen ankam, der Rent-a-Car-Parkplatz natürlich jwd, stand dort erfreulicherweise schon ein Mitarbeiter, der sofort den Wagen abnahm und mich dann mit seinem Auto auch noch zur Bushaltestelle brachte, von wo aus ich nach 30 Minuten in der Stadt war. Er bedankte sich vieltausendmal, dass er nicht wegen meines Autos extra in die Stadt musste.
Ich bin übrigens 2315 Kilometer gefahren. Ich werde dafür viele Ave Gretas beten müssen. Aber man kommt so schlecht mit der Yacht von Tallinn nach Vilnius.

Das Hotel? Doppeltes Hustepiepen! Mein High-Class-Zimmer, das ich für immerhin 100 € im Voraus gebucht hatte, entpuppte sich als absolut winzige Abstellkammer. Ich habe in meinen Buchungsunterlagen nachgesehen und dort steht „kleines Doppelzimmer“. Nun ja, es ist ein kleines Doppelzimmer; wenn man sich sehr, sehr, sehr lieb hat, dann bringt man sich dort auch nicht gegenseitig um. Auch der Zustand ist keine drei Sterne wert. Die Rixwell-Hotels werde ich in Zukunft sowas von weiträumig umfahren – wie das Kamener Kreuz bei Stau noch niemand so weiträumig umfahren hat. Eine so besch… Hotelkette – ich kann es nicht anders sagen…. Halt leider beide schon früh von Deutschland aus gebucht, ohne Stornomöglichkeit. Die positiven Bewertungen müssen gekauft worden sein. Anders kann ich mir das nicht erklären.

Jetzt stellte sich die Frage, ob ich auf meinen drei Quadratmetern den ganzen restlichen Tag hier sitze und greine oder was ich sonst mit dem Tag anzustellen gedenke. Ich plünderte erst einmal die Minibar, um dann nach einer halben Stunde zum Schirm zu greifen, um durch die Stadt zu schwimmen. Ihr merkt, die Plünderung hielt sich in Grenzen.

Es war witzig, durch eine Stadt zu laufen und oft zu denken: „Hey, das kenne ich!“ Ich setzte mich sogar in die Kreisch-Bar, wo aber statt des Elvisimitators diesmal eine talentierte Frau gecoverte Soft-Pop- und R&B-Songs vortrug. Dann enterte ich diverse Souvenirgeschäfte. Es ist absolut unheimlich. Mir gefällt hier nichts, aber auch gar nichts. Ich werde morgen mal auf die Suche nach der berüchtigten Laima-Schokolade gehen. Vielleicht passt die gut zum Tallinn-Schnaps, den ich in Estland erwarb.

Und dann kam endlich die Sonne durch. Leider ein bisschen spät, Monsieur Soleil! Aber immerhin hatte ich meine 15 Minuten blauen Himmel.

Essen war ich dann in einem Self-Service-Pelmeni-Laden. Man schaufelt sich russische Suppen auf den einen Teller und auf einen anderen Salate und auf einen dritten Pelmeni, das sind die gefüllten Teigtaschen, die es in allen möglichen Variationen gibt. Und schwupps ist man für 4,32 Euro satt. Und es war auch noch ganz lecker. So eine Kette würde bei uns bestimmt auch gut laufen.

Pelmeni-Variationen, Salat und Apfelschorle.
Mehr Fotos? Wie, Ihr habt noch nie einen Wolkenbruch gesehen??

Dann schnell auf die Uhr geguckt. Wir erinnern uns. Kein Wein darf sein nach acht im Mondenschein. Glück gehabt. 19 Uhr 30. Schnell in den nächsten Shop und einen Rosé de Hagueboutte gekauft.

Morgen soll das Wetter auch nicht so wirklich… daher werde ich ausgiebig schlafen, spät frühstücken und die lange Zeit bis zum Abflug im Lettischen Nationalmuseum verbringen. Das wird sehr gelobt. Ich bin gespannt.

So, ich suche jetzt mal bei Google nach „Wie werde ich Schwimmhäute los in nur 10 Tagen“ und hagebutte dabei ein bisschen.

Bis morgen, wenn Ihr mögt.

? ? und ? , Euer Gerald

In Bäckereien gibt’s schöne Souvenirs. Das Brot ist hier wirklich lecker. Und auch die Erste-Hilfe-Kekse sind außergewöhnlich gut. Erste-Hilfe-Kekse? Elke fragen!

Wer findet den Fehler? (Leider verfälschen die Aufnahmen den Eindruck, denn nur ein Zimmer hat ganz aufs Foto gepasst)

Tag 13: Memelland

Sveiki visi!

Heute war wettertechnisch der bisher schlechteste Tag meiner Rundreise, und ausgerechnet heute wollte ich ja auf die Kurische Nehrung. Die ist bei Regen natürlich nicht ansatzweise so schön wie bei Sonnenschein. Also frühstückte ich erst einmal in aller Ruhe und ganz gut, denn laut Wettervorhersage sollte es besser werden, und das schon bald. Es war zudem zu überlegen, ob ich mit dem Auto fahre, oder mit der Fußgängerfähre übersetze und auf der Nehrung die Buslinien nehmen sollte. Bei der Sichtung der Fahrpläne wurde mir allerdings schnell klar, dass ich mit dem Bus nicht glücklich werden würde. Also mit dem Auto hinüber; das tat ich dann gegen 10 Uhr. Ich stellte mich auf sehr hohe Kosten ein, da die Fähre 12,30 € kosten sollte und zusätzlich eine Maut von 20 € für die Insel fällig sein sollte. Erstaunlicherweise waren die 12,30 € aber für Hin- und Rückfahrt, und die Maut betrug nur 5 €. Man kann sich auf keine Internet-Informationen mehr verlassen, das hat schon der alte Goethe gewusst.

Wann kann man beim Autofahren schon mal gefahrlos ein Selfie schießen? Auf der Fähre natürlich!

Ich wollte erst einmal ganz durchfahren bis fast an die russische Grenze zum Oblast Kaliningrad. Einen kleinen Stopp machte ich in Juodkranté, als ich an Sandskulpturen vorbeifuhr. Nett. Dann nach Nidden, das ist ein sehr pittoresker Ort, selbst im grauen Gewand. Viele hergerichtete Holzhäuser, einige stehen sogar unter Denkmalschutz, alles ein bisschen aufgehübscht, alles ein bisschen trostlos. Trostlos heute, weil sich nur ganz wenige Menschen hierher verirrt haben. Hier ist richtiggehend Nachsaisonsdepression. Und dann bei diesem Wetter: ein Fest! Aber ich kann mir vorstellen, dass man im Sommer hier ganz wunderbar Zeit verbringen kann. Der Blick aufs Haff ist sehr schön, es gibt dort ein ganz besonderes Licht, dass schon viele Künstler hierher gelockt hat. Unter anderem Berühmtheiten wie Lovis Corinth.

Auch die anderen Orte auf der Kurischen Nehrung sind recht ansehnlich. Die Dinge die ich mir ansehen wollte, natürlich die Häuser, dann aber auch die für diese Gegend einzigartigen Grabtafeln, die es hier auf den Friedhöfen gibt. Der von mir besuchte Friedhof war fast schon ausschließlich deutsch. In der dazu gehörigen evangelisch-lutherische Kirche hält man auch deutsche Gottesdienste ab, es liegen sehr viele deutschstämmige Menschen auf dem Friedhof, es gibt sehr viele Inschriften auf deutsch. Wen wundert’s, war hier doch alles mal sehr deutsch. Hierzu empfehle ich den Interessierten einmal die Geschichte über Memel zu lesen, so hieß Klaipeda bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Dann habe ich natürlich die große Düne erklommen, da hat es mich fast weggeweht! Ich weiß nicht genau, wann ein Orkan anfängt, aber es fühlte sich an, als wäre es nicht mehr weit weg davon. Am Ostseeufer war ich selbstverständlich dann auch noch. Die See war heute natürlich rauh wie sonst was, aber auch hier ein toller Ausblick über kilometerlange weiße Sandstrände, hohe Dünen, Nadelwälder, die bis zum Strand stehen.

Es gibt hier außerdem einige Märchen- und Hexenwälder, aber leider ist das für mich nicht von Interesse, handelt es sich dabei doch vorrangig um eine Ansammlung dieser gruseligen „skandinavischen“ Holzfiguren, die mir ein wenig zu altbacken sind.

Es gibt diverse Skulpturenparks sowohl in Klaipeda, als auch auf der Nehrung. Aber auch hier ist meine Begeisterung nicht besonders groß, alles sieht ein bisschen aus wie ein billiger Henry Moore. Und selbst den finde ich nicht besonders erwähnenswert. Man staple drei große runde Steine aufeinander, haue eine Eisenstange mittdurch und nenne das Ganze die drei Grazien (wahlweise die Musen, Nornen oder die Drei von der Tankstelle), schon ist die Kunst fertig? Nein, liebe Leute, so einfach ist das nicht. 🙂

In Nidden gehört sich natürlich auch ein Besuch des Thomas-Mann-Hauses. Der Nobelpreisträger (ich liebte die Buddenbrooks!) verbrachte hier drei Sommer hintereinander und schrieb „Joseph und seine Brüder“. Das heutige Museum ist ein bisschen schlicht. Paar Tafeln an der Wand, ein paar Installationen. Ich meine, es ist spannend, sich vorzustellen, wie der Übervater der Mann-Familie sinnierend auf der Terrasse stand und auf das Kurische Haff heruntersah. Aber man hätte hier mehr draus machen können. Was bleibt ist der Wunsch, sich noch einmal mit dieser sehr interessanten Familie auseinanderzusetzen.

Als sehenswert waren noch diverse Naturparkteile angegeben, so z.b. der Wald der Kormorane und Graureiher. Auf der Aussichtsplattform für das von diesen Vögeln bewohnte Gebiet standen 20 Touristen und schnatterten „Wo sind denn die Vögel, ja, wo sind denn die Vögel?“. Die Vögel waren natürlich nicht da, aber ich würde mich auch unter meinem Bett verkriechen, wenn lauter Touristen vor meiner Tür stehen und nach mir riefen. Aber man sah doch viele Nester und man sah doch viele weiße, tote Bäume, denn der Vogelkot bedeckt und erstickt alles. Zudem gibt es noch einen Elchbruch. Aber da ich ja vor kurzem erst Elch… habe ich mich da nicht hingetraut.

Es gibt über Kormorane übrigens einen netten Vers von Robert Gernhardt, unserem Dichter aus Tallinn. Aus seinem Tieralphabet. Ist aber nicht pc. 🙂

Nach fünf Stunden Aufenthalt hatte ich genug von wechselhaftem Wetter, Kälte, Wind und Regen, so dass ich wieder Richtung Fähre fuhr. Was soll ich sagen? Kurz bevor ich dort ankam, brach der Himmel auf und die Sonne schien durch und es wurde warm. Aber deswegen jetzt wieder zurückfahren, um den ganzen Kram noch einmal zu machen: nein danke.

Ich beschloss dann – statt wie ursprünglich geplant, ein kleines Nickerchen zu machen – mir doch noch einmal Klaipeda anzugucken. Und es gibt hier doch schöne Ecken; es gibt Fachwerkhäuser, es gibt es einen schönen Theaterplatz, es gibt den völlig überbewerteten und trotzdem netten Ännchen-von-Tharau-Brunnen, und die Altstadt ist an sich auch ganz okay. Zu diesem Brunnen, an dem ich in einem Restaurant mein Bier zu mir nahm, wurde eine Reisegruppe nach der anderen angekarrt. Alle staunten ehrfürchtig die kleine Bronzefigur an, durften sich dann um die Ecke ein Eis holen, konnten an den völlig überteuerten Ständen Souvenirs erstehen und wurden wieder in den Bus verfrachtet. Und das vier oder fünf Mal in der einen Stunde.

Heute hatte ich – glaube ich – das erste Mal ein veritables Rundreisenerschöpfungssyndrom. Ich vermute, man merkt das auch meiner mäkeligen Art der heutigen Schilderungen. Es prasselt ja doch so einiges auf einen ein. Ich wusste heute Abend nicht mehr, ob nun Richard Wagner hier am Theater eine Saison lang dirigierte (tat er) oder ob er nackt im Brunnen gebadet hat (tat er [wahrscheinlich] nicht). Ein Informationsfluss sondergleichen, dazu die langen Fahrten und die Vorbereitungen eines jeden Tages. Gleichzeitig überkommt mich aber doch Wehmut, dass ich mich morgen von Ludwig Zisch trennen muss und dann in Riga meine letzte Nacht im Baltikum verbringe.

Naja. Erstmal wieder morgen zum Ausgangspunkt der Reise, und noch ein paar kleine Dinge erleben. Ihr seid doch wieder dabei?

Pasimatysime rytoj! Euer Gerald

Scheibe. Geblitzt. Nee. Nur Spaß! 😉
Udo, das bist ja Du in 20 Jahren! Und jetzt schon ein Denkmal? Wow!

Tag 12: Kreuzberg? Nicht nur in Berlin!

Labas vakaras iš Klaipėdos!

Heute habe ich nicht so wahnsinnig viel erlebt, da ich die meiste Zeit im Auto verbracht habe. Und Autofahren ist hier ja eher ein unspektakuläres Ereignis. Wobei ich meine, zwischen den baltischen Fahrern kleine Unterschiede ausgemacht zu haben. Hier in Litauen fährt man eher etwas forscher. Naja, die Selbstmordrate ist ja hier scheinbar auch höher als anderswo.

Damit aber das Tagebuch heute nicht nur aus zwei kurzen Anekdoten besteht, hier ein kleiner baltischer Sprachkurs. Ich frage das dann zuhause ab:

Bei einigen Wörtern müsst Ihr Euch noch wilde diakritische Zeichen dazu denken 🙂

Gegen 10 Uhr brach ich in Vilnius auf in das ca. 30 Minuten entfernte Trakai. Der ganze Ort hat einiges zu bieten, aber aufgrund meines zweiten Ziels und der insgesamt langen Strecke konzentrierte sich mein Besuch ganz auf die Wasserburg. Also, man möchte sich nicht vorstellen, was da in der Hauptsaison los sein mag. Denn schon Hunderte von Metern vor der Festung winkten Babuschkas die Autos auf ihre Hinterhöfe. Was aber beim heutigen Besucherandrang zwecklos war, denn die zwar kostenpflichtigen, aber bezahlbaren Parkbuchten waren noch lange nicht alle belegt.

Großfürst Vytautas

Die Burg liegt malerisch mitten in einem See. Sie könnte aus einem Disneyfilm stammen. Ganz klar ist mir auch nicht, wie alt oder neu bestimmte Teile der Burg sind. Einiges sieht aus wie frisch dahingemauert.

Es gibt viele kleine Ausstellungen, man kann sich einen Marathon über Treppen, Stiegen, Wege und Zimmer erlaufen, und erlebt eine wirklich enorm instandgesetzte mittelalterliche Anlage. Sehr sehenswert und hübsch das alles. Wenn man mag, kann man auch mit einem Boot auf dem See rumschippern, entweder mit einem Kapitän auf einem größeren Exemplar oder unter Einsatz seiner Beinmuskulatur auf einem kleineren Exemplar.

Kaunas ließ ich links liegen und begab mich – einen ziemlichen Umweg hinnehmend – zum Berg der Kreuze. Dieser Wallfahrtsort liegt mitten in der litauischen Pampa. Ich wurde mal wieder teilweise über Schotterpisten dahingeführt. Mein armer Ludwig. Ging wahrscheinlich auch anders, aber ich habe den Menüeintrag „Schotterpisten NEIN“ im Navi noch nicht gefunden. Zwischendurch hatte ich ein bisschen Benzinpanik, da partout auf der ganzen Strecke keine Tanke sichtbar war. Ich habe das aber durch einen kleinen Abstecher in eine größere Ortschaft gelöst. Die Dame an der Kasse war zum Plaudern aufgelegt, sprach aber nur Litauisch. Und „Ja, nein, danke, Prost“ hätte mir da nur wenig geholfen.

Was soll ich sagen? Ich erwartete einen mystischen und spirituellen Ort. Aber es war vor allen Dingen eins: gespenstisch. Die Geschichte dieses Kreuzberges ist interessant, eine Art Symbol des Widerstandes der Litauer gegen vor allem die sowjetischen Besatzer und der Katholiken gegen die Kommunisten. Bewundernswert. Aber leider ist für mich diese Ansammlung religiöser Kultobjekte, die im starken Wind auch noch akustisch nach Aufmerksamkeit heischen, ein bisschen zu viel. Die Touristen, die dann laut schnatternd durch die Kreuze stapften, taten ihren Teil dazu. Angegruselt habe ich mich wieder entfernt.

Bis nach Klaipeda, meinem Bestimmungsort für die kommenden beiden Nächte, musste ich dann noch zweieinhalb Stunden fahren. Ich kam gegen 18 Uhr dort an und landete auf einem Hinterhof, wo mir das Navi erklärte, ich habe mein Ziel erreicht. Leider versäumte ich es, ein Foto zu machen. So ein anheimelnder Hinterhof! Da hätte ich gerne gepennert. Nachdem Google Maps sich weigerte, einzusehen, dass es falsch lag, ließ ich den Wagen dort auf dem Hof stehen und fragte mich bei den spärlich hier herumlaufenden Menschen nach dem Hotel durch. Einen Block weiter fand ich es dann, holte den Wagen und checkte ein. Ganz nett, aber Entzückensschreie kann ich zurückhalten.

Ein erster Erkundungsgang ergab, dass es auch in der Sonne inzwischen frisch ist, also bereute ich, meine Jacke im Auto gelassen zu haben. Zum zweiten stellte sich heraus, dass offensichtlich auch anderen zu frisch war, sich draußen herumzutreiben. Es ist wie ausgestorben hier. Sehr nachsaisonal. Und leider auch nicht allzu sehenswert. Ich war am Kastell, an dessen Ufern sich hunderte von Yachten schmiegen, am zentralen Platz und in der Haupteinkaufsstraße. Naja. Nett. Nett und leer und frisch.

Im Hotel wird gerade eine Hochzeit gefeiert, aber eher im kleinen Stil. Ich hätte mich sonst daruntergemischt. Daher ist das Hotel auch gut ausgebucht.

Ja, Ihr Lieben. Morgen wandele ich dann auf den Spuren von Thomas Mann, der oft an der kurischen Nehrung seine Sommerfrische verbrachte. Und versuche, das Ännchen zu finden.

Bis denne! Euer Gerald

Scheint, das Guest Craft Bier der Saison ist Kölsch. Aber warum spuckt der Mann es wieder aus?
Und was bedeutet Vier Winde Kölsch Stil-Bier? Bier übrigens: alus, olu, alus…
Und wenn wir schon bei Bier sind: Pils bzw. pilis heißt im Lettischen/Litauischen Burg oder Schloss

Tag 11: Nun doch ein viertes Land – ganz offiziell

Mieli skaitytojai!

Der Nachteil eines Apartments auf so einer Rundreise ist ja der, dass man sich dem morgendlichen Müßiggang hingibt. Denn kein Frühstück wartet auf einen, dass bis 10 Uhr oder wann auch immer eingenommen werden muss. Und man kann sich dann so prima noch einmal rumdrehen. Und dann noch einen Kaffee und noch einen Kaffee…. So kam ich erst sehr spät aus den Plumeaus in die Plünnen und in die Puschen.

Mein erster Besuch galt der Kirche St. Peter und Paul, ein eindrucksvolles Beispiel für den Hochbarock in Europa. Mehrere tausend Figuren sind aus dem Stuck herausgearbeitet, sie sind sehr kunstvoll und vielfältig. Man könnte Stunden verbringen, sich alle diese kleinen Kunstwerke der Bildhauerei anzusehen.

Aber ich wollte um 13 Uhr eine kleine Bootstour über die Neris unternehmen und die Kirche liegt etwas außerhalb der Innenstadt. Die Bootsfahrt sollte 45 Minuten dauern und an der Mindaugas-Brücke starten. Als ich mich dort kurz vorher einfand, stellte sich heraus, dass ich der einzige Kunde war; die drei Mitglieder der Besatzung fläzten sich herum und schienen nicht besonders motiviert, daher beschloss ich gar nicht erst, nach der Tour zu fragen. Ich hätte mich auch unwohl gefühlt, so ganz alleine auf dem Boot. Zudem hatte ich ja schon einiges von der Flussseite aus gesehen. Und es nieselte auch. Igitt. Mindaugas war übrigens der einzige König Litauens.

So begab ich mich dann zum Präsidentenpalast und knipste mich mit dem. Dann erwarb ich Tickets für den Besuch der Universität, wo in der Universitätskirche jemand für mich Orgel spielte, das fand ich sehr aufmerksam! Die Universität ist in verschiedenen Stilen gebaut und durchaus sehenswert. Sehr, sehr viele junge Studentinnen und Studenten wuseln sich auf den vielen Innenhöfen. Hier macht studieren bestimmt viel Spaß.

Auch für den zur Uni gehörigen Glockenturm erwarb ich ein Ticket. Man fährt nach ein paar Stufen mit einem Glasaufzug hoch, das ist ja mal wieder so richtig was für mich! Ich musste die Augen schließen! Gibt es eigentlich wissenschaftliche Untersuchungen, warum Höhenangst immer schlimmer wird? Auf der 4. Etage des Turms waren die spektakulären Ausblicke dann durch Gitterfenster verdeckt, also habe ich mich eine schmale Stiege hinaufbemüht, um an die Brüstung des Glockenturms zu gelangen. Schon beim Aufstieg habe ich mich gefragt, wie ich jemals lebend da wieder herunter kommen soll. Aber die Ausblicke sind wirklich spektakulär! Und das Wetter hatte sich inzwischen gebessert. Im untersten Stock des Turmes gibt es noch eine kleine Ausstellung, auf der ersten Ebene (wo der Aufzug startet), gibt es ein foucaultsches Pendel. Sehr interessant.

Weiter ging es in das ehemalige jüdische Viertel. Auf dem Weg dorthin kam ich an einer Kirche vorbei, in der gerade ein Gottesdienst stattfand, ich glaube auf russisch. Es ist schon interessant: jedes Mal wenn ich ein religiöses Gebäude besuche, findet dort irgendetwas statt oder jemand spielt Orgel oder jemand wird getauft. Religiöses Leben spielt hier eine größere Rolle als bei uns. Wobei: dieser Gottesdienst war nur von 20 Frauen und zwei Männern besucht. Aber immerhin vier Messen täglich, wenn ich das richtig gedeutet habe!

Das jüdische Viertel war nicht einfach zu finden. Es hieß früher Klein-Jerusalem und war ein weltweit geachtetes Zentrum des Judentums. In Vilnius gab es fast 100 Synagogen, das Jiddisch wurde hier kultiviert, es gab über 150 jüdische Vereine. Warum fand ich es nicht? Nun, es wurde fast alles ausgerottet, was an jüdischem Leben hier war. In Litauen wurde sowohl von deutscher als auch russisch/litauischer Seite mit unglaublicher Brutalität vorgegangen. Ein entsetzliches Kapitel in der Geschichte Litauens!

Ich lief weiter zur alten Bastion. Die ist nicht weiter sehenswert, aber auf meinem Weg nach Osten gab es sehr schöne Aussichtspunkte, von denen man aus über die gesamte Stadt blicken konnte. Außerdem kam ich noch an der leicht verfallenen und seit langem geschlossen Himmelsfahrt-Kirche vorbei, ein bemerkenswertes Mahnmal an die Vergänglichkeit.

Auf meinem Weg zurück kreuzte ich erneut die Republik Uzupis. Hier nahm ich dann auf der Terrasse des quasi Regierungsgebäudes, dem Café Uzupio, mein Bier mit Blick auf die Vilnia ein. Das hatte ich zwar gestern schon vor, aber da war die Terrasse von Briten okkupiert, die sich gegenseitig mit Lebensmitteln bewarfen und grölten. Kurz vorm Brexit noch mal die Sau rauslassen. Und dann holte ich mir doch einen Stempel für meinen Pass. Ich war nun offiziell und nachweisbar dort.

Apropos Ländervertretungen: Ich bin an so ziemlich allen Botschaften in Vilnius vorbeigekommen. Wenn man nun davon ausgeht, dass alle fast 200 Länder dieser Welt eine diplomatische Vertretung in Vilnius unterhalten und dann annimmt, dass Vilnius in ebenso vielen Ländern ein Gegenstück hat, dann ist die prozentuale Quote an Diplomaten im Beruferanking Litauens sehr hoch. Wie mag das in noch kleineren Ländern sein?

Auf dem Weg ins Apartment kaufte ich noch Käse bei einem Lidl ein – wiewardasmitderWeltunddem Dorf? – da ich wieder nach mehreren Stunden Fußmarsch zu erschöpft war, ein Restaurant zu suchen. Zudem hatte ich noch Fisch und musste die Route für morgen überlegen. Kaunas soll doch nicht wirklich sooo besuchenswert sein. Auch ein Wein musste noch in die Einkaufstüte. In Litauen gibt es übrigens strikte Gesetze, was Alkohol angeht. Sie werden begründet mit einem Weltspitzenplatz an Alkoholikern und daraus resultierenden Suiziden. Puh.

Also, für heute nur noch viele Grüße an alle und ? ? .

Euer Gerry

Und ich Dummerchen dachte immer, die heißt Norma Jean Baker.
Den wollte ich Euch nicht vorenthalten. Ist der nicht putzig?

Tag 10: Sie will ja, sie will ja… nach Wilna

Sveiki atvykę į Lietuvą!

Nun also Litauen. 🙂

Zum Hotel heute früh gibt es noch zwei Dinge zu berichten; erstens war das Frühstück so lala, auch hier fühlte ich mich an Moskauer Zeiten erinnert, und zweitens rufe ich hiermit alle Hoteliers auf, künftig alle Turn- und Sportvereine, die nachts ihre Übungen abhalten, ins Erdgeschoss zu verbannen. Insbesondere in Gebäuden mit Holzdecken! Gleiches gilt übrigens auch für kinderreiche Familien, deren Zöglinge gerne Möbel rücken!

Natürlich habe ich von den mir gesteckten Zielen die Hälfte nicht geschafft. Das Gelände der Zarenfestung ist sehr weitläufig, das hat schon mal viel Zeit gekostet. Es gibt dort auch, oha!, ein Mark-Rothko-Zentrum. Die Fahrt nach Dinaburga war auch zeitraubend, wobei von der Burg wirklich nur noch ein paar Felsen herumliegen. Aber die Aussicht auf den Nationalpark Daugava Loki über den Fluss Düna ist wunderschön. Nur sein Mückenspray sollte man nicht vergessen. Ein winzig kleines Modell der Burg lässt erahnen, wie es früher dort einmal ausgesehen haben mag.

Ich machte mich dann auf den langen, langen Weg nach Vilnius. Ich war sehr schnell in Litauen, denn Daugavpils liegt sehr nah an der Grenze. Bisher sind die Fahrten durchs Baltikum immer sehr schön gewesen, alles ist grün, man fährt quasi durch Seen hindurch, an Flüssen vorbei, manchmal poppt ein Astrid-Lindgren-Haus auf. Und dann poppt auch mein Herz auf. Meistens aus Holz und schön bunt. Also, das Haus, nicht mein Herz. Es ist Bilderbuch, durch das Baltikum zu fahren.

Die Straßen in Litauen, zumindest die von mir benutzten auf der Strecke von Daugavpils nach Vilnius, waren aber in einem teilweise erschreckenden Zustand. So kam ich nicht besonders schnell voran. Trotzdem schaffte ich es, mit nur einer halben Stunde Verspätung um 14 Uhr in Vilnius bei meiner Gastgeberin Simona zu sein. Das Apartment ist sehr schön, mein Wagen steht in einem Innenhof, das Tor übrigens nur ein paar Millimeter breiter als der Wagen. Dann Besichtigung und Erläuterung. Und während wir so sitzen und die Wohnung besprechen, taste ich nach meinem Geldbeutel, weil ich die Übernachtung auch hier in bar bezahlen sollte, und… Er war weg.

Ich hatte 200 km zuvor an einer Tankstelle getankt und musste dort meine Kreditkarte in einen Schacht an der Zapfsäule stecken, während ein etwas unheimlicher Mensch hinter mir die ganze Zeit auf mich eingebrabbelt hat. Sollte das eine Ablenkung gewesen sein? Aber ich war mir sicher, ich habe das Portemonnaie wieder in meine Hosentasche gesteckt. Schnell zum Auto gelaufen, alles gründlich durchsucht, kein Portemonnaie. Wieder ins Apartment, Rucksack ausgekippt, kein Portemonnaie!! Panik!!! Simona bat dann darum, zusammen zum Auto gehen, wir würden das Ding schon finden. Und dann lag es im Fußraum. In meiner Aufregung habe ich es beim ersten Durchsuchen schlichtweg übersehen. Schweißperlenalarm hoch 10! Ich bin zu alt für sowas.

Ich glaube, das Apartment, das ich gebucht habe, ist ein anderes, als ich nun bekommen habe. Aber ich fühle mich bisher wohl, insofern ist das für die zwei Tage egal. Es liegt sehr zentral, ich brauchte nur ein paar Minuten bis zur Touristeninformation. Vorher habe ich noch die Skyline der Neustadt am gegenüberliegenden Ufer der Neris, dem Hauptfluss der Stadt, fotografiert, die ein bisschen an Frankfurt in Kinderschuhen erinnert.

In der Tourist-Information erkundigte ich mich nach einem Aussichtspunkt, man schickte mich auf den Gediminas-Turm. Das sei quasi Pflichtprogramm. Ich fuhr mit der Standseilbahn hoch, erkraxelte den Turm, der auch ein Museum ist und lief wieder herunter. Schöne Aussicht von da oben!

Ich begab mich dann zur St. Anne und Bernhardine-Kirche, eins der seltenen Gotikgebäude in Litauen. Dann ging es weiter zur „unabhängigen“ Republik Uzupis. Dies ist eine sehr interessante Konstruktion, ich empfehle den entsprechenden Wikipedia-Artikel dazu zu lesen. Vor allen Dingen ist die Verfassung äußerst witzig. Auf die Ausstellung eines Visums in meinem Pass habe ich verzichtet, das wäre tatsächlich möglich gewesen. Ich schlenderte dann ein wenig durch die Altstadt.

Eine Achse von drei Straßen von der Kathedrale bis zum Ausros-Vartai-Tor ist dabei die Route der meisten Haupattraktionen. Also, Vilnius ist sehr, sehr schön dort. Ein Hingucker löst den anderen ab. Viel Barock, Renaissance, Klassizismus, alles da. Und alles sehr urban und trotzdem luftig. Ich bin versucht zu sagen, dass mir diese Hauptstadt am besten von den dreien gefällt. Aber da würde ich Äpfel mit Birnen vergleichen. Es ist eben ein weiteres Highlight dieser an Highlights nicht armen Reise.

Kirchen, Palais‘, Tore… und palaisartige Kirchen im Tore. Ich konnte einen Gottesdienst im Ausros-Vartai-Tor mit ansehen. Es gibt dort eine wundertätige Ikone. Die Muttergottes im Tor der Morgenröte.

Nach etwa viereinhalb Stunden Fußmarsch besorgte ich mir dann in einem Laden etwas Fisch, in einer wunderbaren Bäckerei etwas Brot und sitze jetzt bei einem Rosé am Esstisch und schreibe dies auf.

Ich werde heute mal darauf verzichten, mir Gedanken über morgen zu machen. Denn wie heißt es schon in Brechts „Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“?

Ja mach nur einen Plan
sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch´nen zweiten Plan
gehn tun sie beide nicht.

Also, morgen dann wieder hier in diesem Salon?

Liebe Grüße von Eurem Gerald

Schöne Reise? Ja, Schwein gehabt!
So sieht es aus, wenn ich Tagebuch schreibe. Links mittig der unabkömmliche Hagebuttentee.

Tag 9: Der Abstecher nach Russland

Sveiks, Ihr Lieben!

Wir sind wieder in Lettland, wie Ihr an der Anrede merkt. Aber von vorne.

Nach einem kleinen Frühstück, es war alles ganz ordentlich, riss mich aber nicht vom Stuhl, lief ich zur Johanniskirche, die als sehr sehenswert angepriesen wird. Das Erstaunliche an dieser Kirche sind die ca. 1000 Terrakotta-Figuren, die früher die Nischen rund um das Portal sowie den Innenraum schmückten. Damit kommen sie zwar nicht an die Terrakottaarmee des Kaisers Qin heran, aber das ist ja auch schwierig. Nach dem Wiederaufbau der Kirche sind diese Figuren aber erst zu einem kleinen Teil restauriert bzw. nachgebildet und ausgestellt. Im Innern der Kirche wird einem das Ausmaß der Zerstörung der Kirche im Krieg klar, man hat wohl bewusst Strukturen unrestauriert belassen.

An der Universität vorbei lief ich den Domberg hinauf, besuchte die Engels- sowie die Teufelsbrücke, schaute mir kurz den Dom an und begab mich anschließend wieder ins „Tal“ zur Markthalle. Auf dem Weg sind mehrere Skulpturen ausgestellt, wie z.b. von Oscar Wilde, zusammen mit Eduard Vilde auf einer Bank sitzend, so wie die eines Bronzeschweins, an dem erläutert wird, welches Fleischstück aus welchem Teil des Tieres kommt, zudem eine Kunststoff-Badeente in XXXXL, die eine Medaille trägt. Wofür, weiß ich leider nicht. Übrigens sind die beiden nackten Männer von gestern Abend Vater und Sohn, aber die Erklärung aus dem Tourismus-Heftchen ließ mich über die Bedeutung im Dunkeln tappen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat der Bildhauer seinen Sohn sehr früh verloren. Eduard Vilde ist übrigens ein estnischer Dichter.

In der Markthalle hat mich erstaunt, dass ich in Europa Früchte angucken kann, von denen ich nicht weiß, was sie sind. Merkwürdige Beeren, seltsame Wurzeln, fremdartige Gewächse. Ich lief am Fluß Emajogi zurück zum Hotel, checkte aus und begab mich auf große Fahrt nach Daugavpils.

Auf dem Weg dahin stoppte ich in Aluksne, das kurz hinter der Grenze liegt. Es gibt dort Ruinen einer Ordensburg (wer glaubt, dass es im Baltikum mehr Einwohner als Burgen und Burgruinen gibt, hat mein Tagebuch nicht gelesen), ein neues Schloss von 1863, diverse Kirchen, haufenweise Springbrunnen und sehr schöne Parkanlagen.

Sehr hübsch ist auch die evangelisch-lutherische Kirche, die aber offensichtlich keinen Namen hat, denn weder im Reiseführer, noch bei Wikipedia wurde ich fündig. Nun ja, in Köln-Deutz gibt es ja auch ein Brauhaus ohne Namen, warum soll es in Aluksne nicht eine Kirche ohne Namen geben?

Extra für Matthias aus Basel bin ich dann noch zur Endhaltestelle der Schmalspurbahn zwischen Aluksne und Gulbene gefahren. Ich wollte für ihn wenigstens das Bahnhofsgebäude fotografieren. Doch welche Überraschung, die Bahn fuhr sogar mit zwei Waggons ein, als ich gerade ankam. So konnte ich ein kleines Video drehen. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre ich auch noch nach Gulbene mit der Bahn gefahren (und natürlich wieder zurück). Aber meine Zeit ist viel zu knapp bemessen. Nun, das war mir von vornherein ja klar.

Auf dem Weg nach Daugavpils wollte ich noch zwei andere Orte besuchen, die sogar in der dortigen Umgebung liegen. Es handelt sich zum einen um das Altgläubigen-Dorf Slutiški, zum anderen um das ursprüngliche Daugavpils, das frühere Dinaburga. Dort gibt es, wer ahnt es?, Ruinen zu bestaunen. Aber die Strecken hier im Osten Estlands und Lettlands ziehen sich wie Kaugummi. Eine Autobahn gibt es natürlich nicht, aber selbst von Bundesstraßenniveau sind die Verbindungen hier weit entfernt. Da ich mit Ludwig Zisch immer vertrauter werde (ich weiß jetzt, wie ein Tempomat geht!!!), konnte ich die heutige Durchschnittsgeschwindigkeit ermitteln: 65 km/h. Und als das Navi mich kurz vor Daugavpils dann noch auf eine Schotterstraße führen wollte, es aber inzwischen schon kurz vor 18 Uhr war, beschloss ich die Ausflüge sein zu lassen und zu schauen, ob ich sie morgen eventuell noch einschieben kann.

Ich hatte etwas Schwierigkeiten, mein Hotel in Daugavpils zu finden, da es sehr versteckt liegt und ich die Anweisungen des Navis missinterpretiert habe. Die Gegend ist etwas zwielichtig, aber das Hotel ist sehr schön. Vor mir checkte eine Gruppe Asiaten ein, die sich nicht darüber einkriegten, dass ihr Autostellplatz ein sicherer Parkplatz sein solle (die Rezeptionistin beteuerte, alles sei videoüberwacht) und dass sie in bar zahlen sollten. Ich hatte bei der Reservierung gelesen, dass das erforderlich ist. Ist aber auch ungewöhnlich. Später traf ich die Truppe in der Stadt, sie war dann sehr ausgelassen und fröhlich. Man muss sich eben halt manchmal mit den Gegebenheiten abfinden. Und man fühlt sich besser, wenn man sich darüber freut, als wenn man sich Sorgen macht. Binsenweisheit Nummer 1374, heute zum Sonderpreis.

Das Zimmer kostet übrigens ein Drittel von dem von gestern, ist aber genauso gut ausgestattet. Warum das eventuell so ist, erfahren wir gleich.

Damit ich morgen nicht allzu viel Zeit investiere, beschloss ich noch am Abend die zentralen Sehenswürdigkeiten von Daugavpils abzulaufen. Dies ist die Gegend um die Rigaer Straße, dort ein paar verstreute Kirchen, Theater, Konzertsäle und Parks. Die Zarenfestung werde ich erst morgen früh besuchen, da sie jetzt schon geschlossen ist. Wenn es irgendwie geht, besuche ich noch das Vierkirchenviertel, Dinaburga, und eventuell – je nachdem, wann ich aufstehe – das Altgläubigendorf, das ich heute verpasst habe.

Warum ist hier alles so billig? Bier 1,50! Juchhe (J.Brahms)! Der folgende Satz ist eine reine Feststellung: wir sind hier quasi in Russland. Die Jugend auf der Straße spricht russisch, die Verkäuferinnen im Laden sprechen russisch, das ganze Wesen der Menschen die hier leben, ist russisch. Die Mentalität unterscheidet sich deutlich von denen auf von mir bisher besuchten Gebieten im Baltikum. Dafür fühle ich mich an meine vielen Russlandaufenthalte umso mehr erinnert. Daugavpils versucht sich aufzuhübschen, aber in der russischen Mentalität endet der Sinn fürs Gemeinwohl hinter der Wohnungstüre, und damit meine ich die Seite zum Treppenhaus hin. Man ist eigentlich eher unfreundlich, ein bisschen laut, ein bisschen desinteressiert. Das ist jetzt natürlich alles über einen sehr, sehr groben Kamm geschert und ein Allgemeinplatz sondergleichen, aber wer Russland und dazu dann auch vielleicht das Baltikum kennt, würde mir möglicherweise zustimmen. Trotzdem fühle ich mich hier nicht unwohl. Aber eine touristische Erschließung wird sich hier noch hinziehen. Und das bedeutet: Kein Tourist, kein teuer.

Mein Abendessen heute war unspannend. Ich war in einem 24-Stunden-Supermarkt, bestaunte erneut Dinge, die ich nicht kannte und orderte an einer Art Fleischtheke Frikadellen und Blätterteiggebäck, aus dem Füllung quoll. Das nahm ich dann zu mir und es war auch sehr lecker.

Morgen muss ich recht früh aufbrechen, denn meine neue Vermieterin in Vilnius, wo ich ein Apartment für zwei Nächte gebucht habe, ist keiner mir bekannten Sprache mächtig; resp. ich keiner ihr bekannten. Als ich ihr erklärte, ich wollte hier in Daugavpils um 13:30 Uhr losfahren, schrieb sie, sie sei dann um 13 Uhr 30 in ihrem Apartment. In Vilnius, das mehr als zweieinhalb Stunden von hier entfernt ist. Nun ja, mal sehen, was ich alles in dieser kurzen Zeit schaffe. Aber ich bin ja nicht undankbar, dass ich das Apartment in Vilnius schon so früh beziehen kann, denn Vilnius ist die größte Stadt, die ich besuche, und daher gibt es wohl ausreichend zu entdecken. Ich will aber nur zwei Nächte bleiben, weil ich unbedingt auch Zeit an der Kurischen Nehrung verbringen will und auf dem Weg dorthin noch Trakai, Kaunas und den Berg der Kreuze sehen möchte.

Es werden noch Wetten angenommen, was ich wie in welcher Zeit schaffe.

Wenn ihr das erfahren möchtet, freue ich mich, Euch hier morgen wiederzusehen.

Euer Gerald

Oscar, Gerald und Eduard beim entspannten Plausch
Heino hat in Tartu offensichtlich eine Musikschule. Hannelore wird hier liebevoll Elleri genannt.

Tag 8: Viel mit Wasser

Ja see jätkub!

Heute morgen also mal wieder packen und abfahren. Das ist natürlich der Nachteil an einer Autorundreise, man lebt quasi aus dem Koffer. Das habe ich eigentlich nicht so gerne, aber es lässt sich ja nicht vermeiden; es macht mir nämlich auch keinen Spaß, jeden Abend und jeden Morgen den Koffer aus- bzw. wieder einzupacken.

Ich kam sehr gut aus Tallinn weg, habe dabei keine Marathonläufer überfahren müssen, und steuerte mein erstes Ziel an, die Jägala-Wasserfälle. Die sehen auf Fotos in Reiseführern etwas spektakulärer aus, als sie in Wirklichkeit sind. Es mag daran liegen, dass die Fälle zur Zeit nicht über die gesamte Breite der Terrasse fallen, sondern nur über etwa die Hälfte. Trotzdem ganz nett, ich mag Wasserfälle ja. Finde ja schon die Stromschnellen der Erft interessant.

Im Winter frieren die manchmal, das sieht dann wohl krass aus

Auf dem Parkplatz trank ich Wasser, als ich hörte, dass ein Mann sich bei einer Frau (auf deutsch) beschwerte, das Wasser sei ja abgestanden. Sie antwortete, er solle dann doch das von Gerald nehmen. Huch. Ich überlegte kurz, mich vorzustellen, ließ es aber dann doch sein. Ein strammes Programm lässt keinen Smalltalk zu!

Von Jägala aus fuhr ich in den Nationalpark Lahemaa. Dort gibt es sehr viele Gutshöfe, von denen das besterhaltene bzw. -restaurierte das Herrenhaus Palmse sein soll. Dieses besichtigte ich dann auch. Außer dem Herrenhaus gibt es eine Schmiede, ein Badehaus, eine Brauerei und, und, und…

Palmse mois

Alles ist sehr gut instandgesetzt und vermittelt einen Eindruck vom Leben eines Gutsbesitzers vom 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts. Die Besitzer dieses Guts waren deutsche Adlige (von der Pahlen). Deutsche Adlige haben Russland ja immer in diversen militärischen Angelegenheiten unterstützt, diese Familie gehörte definitiv auch dazu. Mitglieder der Familie hatten Kontakt zum Zarenhof und zu Gelehrten, Dichtern und Denkern; so ist z.b. Isabell befreundet gewesen mit dem Philosophen Nietzsche. All das ist sehr sehenswert und ich hätte auch eine Weinprobe machen können. Obstweine, die dort produziert werden, aber das ging wegen des Autos ja nun nicht. Außerdem wurden sie alle als „schön süß“ angekündigt. Nun, ich war froh, dass ich eine Ausrede hatte.

Ich wanderte noch ein wenig durch den Nationalpark, insbesondere über das Gutsanwesen, wo es schöne Pavillons, Seen, Brücken et cetera zu bestaunen gibt. Ein Besuch lohnt sich wirklich!

Mein nächstes Ziel war das Fischerdorf Altja an der Ostsee. Es ist ganz pittoresk, es gibt dort sogenannte Netzhäuser (nein, nicht von Vodafone und Telekom!), Holzhäuser, in den Fischernetze aufbewahrt wurden und die ein immer wiederkehrendes Postkartenmotiv dieser Region sind. Ansonsten sehr viel Natur. Nadelwald und Meer = tolle Kombi! Auf dem Weg in dieses Dorf wurde ich von einer Motorradgang überholt, die meinen Wagen beim Überholen sowohl hinten als auch vorne immer um Haaresbreite schnitten, die traf ich dann in Altja wieder. Sie sind aber nicht zu den pittoresken Fischerhäuschen gegangen, sondern sofort in die nächste Bar eingekehrt. Und dreimal dürft Ihr raten… sie haben keinen Kaffee getrunken! Ich weiß, man tut das nicht, aber ich wünsche allen einen schönen Unfalltod. Hoffentlich ohne jemand anderen mitzureißen.

Der Himmel zog sich gegen 15 Uhr zu, bis dahin hatte ich Glück, und als ich in Rakvere an der Ordensburg ankam, war es grau und dunkel. Dazu passte dann auch, dass die Burg schon geschlossen hatte und ich sie so nicht besichtigen konnte. Wir reden über 15 Uhr 30. Ich verließ Rakvere dann bald wieder. Wahrzeichen ist übrigens nicht die mächtige Burg, sondern seit 2002 ein riesiger Auerochse.

Angepriesen wurden als nächster Punkt der Reise die sogenannten Altgläubigendörfer am Peipussee, z.B. Mustvee und Kallaste. Aber diesen Schlenker hätte ich mir sparen können. Nicht wirklich interessant genug, um einen Umweg von fast 100 km zu fahren. Ein paar kleine Kirchlein, ein paar bunte Häuser, aber wenigstens war ich am Peipussee, an der Grenze zu Russland gelegen, das ist immerhin ein geschichtsträchtiger Ort. Man lese dazu über Alexander Newski, der ist uns schon als Kathedralennamensgeber begegnet.

Um 18 Uhr 30 kam ich dann in Tartu an, fand sofort mein Hotel, dieses hat auch einen Parkplatz, was ich sehr begrüße, der Empfang war sehr nett, aber das Zimmer ist nur Durchschnitt. In einem Vier-Sterne-Hotel. Es ist bisher die teuerste Unterkunft der Reise. Aber ich will nicht zu sehr mosern, Parkplatz (Ludwig Zisch findet ihn allerdings ein wenig eng) und Frühstück und Klimaanlage und total zentral.

Dem Herrn Autor sein Hotel, ich wohne ganz oben rechts über der Regenrinne.

Nach dem Einchecken erkundete ich den Rathausplatz. Der ist schon einmal ganz hübsch, mit – klar – dem schönen Rathaus, den küssenden Studenten und dem schiefen Haus. Die küssenden Studenten sind übrigens aus Bronze, nicht, dass mich nachher noch jemand für einen Spanner hält.

2024 wird Tartu Kulturhauptstadt Europas

Ich glaube die anderen Attraktionen von Tartu lassen sich sehr gut morgen früh erkunden, so dass ich am frühen Nachmittag aufbrechen werde Richtung Vilnius; da aber diese Strecke sehr lang ist, werde ich mir überlegen müssen, wo ich einen Zwischenstopp zu Übernachtung einlege.

Also ist noch nicht klar, ob wir uns morgen wieder in Lettland sehen, oder aber dann in Litauen. Ich hoffe ihr seid morgen abend wieder bei mir. Bis dahin wünsche ich euch eine gute Zeit!

Euer Gerald

Estland war die erste der ehemaligen Sowjetrepubliken, die 2014 die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingeführt hat. Ob diese Bronze daran erinnert, weiß ich allerdings nicht.
Warum Ihr keine Souvenirs erwarten dürft… Ich hoffe, Ihr seid froh deswegen!

Tag 7: Linie 1 – kein Musical

Lugupeetud lugejad!

Heute Morgen hat es sich irgendwie eingenieselt, da habe ich den Tag ruhig angehen lassen und erst einmal ausgiebig Kaffee getrunken, ein bisschen Zeitung gelesen und rumgedöst. Irgendwann überkam mich dann aber doch die Lust, den Tag endlich zu starten, trotz des Regens, denn ich bin ja schließlich nicht aus Zucker. Kaum dass ich vor die Tür trat, entwickelte sich der Nieselregen zu einem Wolkenbruch. Und ich musste feststellen, dass ich doch aus Zucker bin. Ich wartete zehn Minuten unter dem Vordach, dann ließ der Regen erstaunlicherweise nach. Ich war schon kurz davor, zum im Gebäude befindlichen Friseur zu gehen, um mir die Haare schneiden zu lassen. Fünf Minuten später sah der Himmel fast so aus, als hätte es hier noch nie Regen gegeben. Das Wetter ist schon sehr komisch in Estland.

Was hat Ihnen denn die Stimmung so verregnet?

Als erstes erkundete ich den Hafen, ich wollte ein paar Kreuzfahrtschiffe sehen. Ich landete am Fährhafen, wo einige der wirkliche riesigen Fähren nach Helsinki und sonstwo lagen, das Kreuzfahrtschiffterminal scheint aber woanders zu sein. Trotzdem hatte ich etwas Hafenatmosphäre geschnuppert, das finde ich immer sehr spannend. Ich glaube mein Sternzeichen ist nicht Widder, sondern Boot mit Aszendent Nixe, irgendwas ist da mit mir und dem Wasser.

Man ist von Tallinn aus – mit der schnellsten Fähre – in anderthalb Stunden in Helsinki

Dann versuchte ich, das Viertel Telliskivi zu finden, das mir als sehenswert beschrieben wurde. Ein Viertel, in dem Künstler und Kreative sich ausgebreitet und dem Viertel so einen Aufschwung gegeben haben sollen. Leider waren meine diversen Navigations-Apps mal wieder sehr uneinig, wie ich dorthin gelangen sollte. Ich glaube, für den Fußgängermodus sind sie noch nicht ausgereift genug.

Ich beschloss dann einfach, in eine Straßenbahn der Linie 1 zu steigen und an die Endhaltestelle zu fahren. Zu meinem Erstaunen fuhr die Straßenbahn dann über eine Haltestelle namens Telliskivi. Ich blieb trotzdem erst einmal bis zum Schluss sitzen, der hieß dann Kopli – laut meines Reiseführers ein verrufener Stadtteil. Dort gibt es nicht rasend viel zu sehen, es ist eine der nordwestlichen Landzungen Tallins. Erstaunlicherweise tummelten sich in der Bucht Hunderte von Schwänen, von denen ich bisher immer glaubte, sie seien Süßwasservögel. Außerdem gibt es dort noch eine Retro-Kneipe, die vielleicht für Trambahnfahrer gedacht war, in einem 50er- oder 60er-Jahre-Stil eingerichtet, und wo man sich preiswerter besaufen kann, als in der Innenstadt. Dort gibt es auch bezahlbare klassische Gerichte wie Soljanka und Pelmeni. Etwas Russisch angehaucht halt. Ach, und die Marineakademie steht da auch noch etwas protzig herum.

Bei der Hinfahrt wurde mir klar, dass diese Linie 1 am anderen Ende zum Schloss von Tallinn fährt, Kadriorg. Also nichts wie hin. Das Schloss liegt in einem sehr schönen Park, es gibt zudem ein Kunstmuseum, das Gästehaus von Peter dem Großen sowie andere nette Kleinigkeiten, wie Pavillons und Teiche. Es ist wirklich alles sehr hübsch. Eintrittsgelder habe ich mir aber gespart, da die Ausstellung im Schloss über alte dänische Meister ging, was mich nicht wirklich interessierte, und die Ausstellung im Kunstmuseum zu umfangreich war, um damit die kostbare, kurze Zeit in Tallinn zu vergeuden. Beinahe hätte ich aber im Museumscafé des Schlosses eine Pavlova gegessen, die sah so verführerisch aus! Aber dann hätte ich mich nur noch den Hügel herunterrollen können, um dann am nächsten Gegenstand, gegen den ich geprallt wäre, den Rest des Tages liegen zu bleiben. Oder man stelle sich vor, da wäre nur ein Teich gewesen! Blubb! Die Pavlova ist zwar nach der russischen Ballerina benannt, ist aber ein neuseeländisches Dessert, das kreiert wurde, als sie dort einmal auftrat. Nutzloses Wissen Teil 38164. Siehe auch Pêche Melba.

Ich lief also lieber noch zum Präsidialamt, so glaube ich jedenfalls, irgendetwas mit dem Präsidenten auf jeden Fall, und wanderte ein bisschen durch die Parkanlagen. Man pflanzte hier übrigens zwischen Blühpflanzen auch sehr viel krause Petersilie. So in Büschen von einem Meter Länge sieht das sehr gut aus. Eine pfiffige Idee. Und das Präsidialamt hat eigene Bienenstöcke.

Dann wieder in die Straßenbahn, wieder Richtung Kopli, aber diesmal an der Haltestelle Telliskivi ausgestiegen. Nun, das Viertel sieht irgendwie ganz hip aus, aber es ist ja in der heutigen Zeit sehr schwer, etwas wirklich hippes zu machen. Es ist, seien wir mal nett, nett. Ein bisschen sehr kommerziell, es gibt viele Läden für Klamotten, Handgeschnitztes, von führenden Pädagogen empfohlenes, unbezahlbares Spielzeug und dergleichen mehr. Dazu einige hippe Kneipen, aus denen mehr oder weniger laut Musik schallt, und alles über und über mit Graffiti beschmiert. Fertig ist das Künstlerviertel. Einige der Graffitis sind dann ganz nett. Aber die Fressbuden haben mich nicht gereizt.

Hier probte eine Heavy-Metal-Band… Diese Kneipe war daher besonders gut besucht.
Wer die Ironie in dieser Komposition findet….

Ich lief über den Bahnhof zurück Richtung Altstadt. Ich kam sogar an den „Drei Schwestern“ vorbei, wo, wir erinnern uns, die Präsidentensuite für n Appel und n Ei zu haben ist. Zudem fand ich noch einige hübsche, kleine Passagen, Häuser und Kirchen. Ich lief noch außerhalb der Stadtmauern ungefähr ein Viertel der Stadt entlang, bog dann wieder in die Stadt ein und kam auf einen großen Platz, wo sich alle auf den Marathon vorbereiten, der morgen und Sonntag hier stattfinden soll. Ich hoffe, der kommt mir bei meiner Abfahrt nicht in die Quere. Ich werde wohl sehr früh aufbrechen, damit die Gefahr minimiert wird. Abgesehen davon habe ich, nach der Lektüre meines Reiseführers, eine für morgen doch mehr als ambitionierte Route mit mehreren Zwischenstopps festgelegt.

Straßenbahnfahren ist in Tallinn eigentlich sehr günstig. Ich hätte eine Tageskarte für 3 € kaufen können, aber das hat auf der App leider nicht funktioniert (der Anmeldeprozess startet auf Wunsch übrigens in Englisch, wechselt aber bei der Zahlungsoption ins Estnische – da ist dann eine gute Intuition gefragt). Ich habe also mehrere Einzeltickets gekauft, bis ich herausfand dass in der App QR-Tickets (Strichcodes) gekauft werden können, die dann nur die Hälfte kosten. Die Straßenbahnfahrerinnen und – fahrer selber bimmeln, was das Zeug hält, die Vorfahrt ist wohl eingebaut. Als die Bahn Richtung Schloss einmal nicht weiter kam, weil ein Auto auf den Schienen stand (was lernen wir in der Fahrschule? Fahre nie in eine besetzte Kreuzung ein!), erlebten wir eine völlig entfesselte Fahrerin. Sie bimmelte sich die Seele aus dem Leib, obwohl sie damit überhaupt nichts erreichen konnte. Aber es schien sehr befreiend für sie zu sein.

Fünf Stunden war ich so insgesamt unterwegs, den meisten Teil der Zeit zu Fuß. Eigentlich wollte ich heute Abend noch eine nächtliche Bootsfahrt unternehmen und davor sogar noch auf den Fernsehturm fahren. Aber, und jetzt bitte einmal alle mitfühlend etwas passendes murmeln: ich bin inzwischen auch in einem Alter angekommen, wo man einfach mal eine Pause braucht. Und ein Bier!

Ich war dann nach einem kurzen Zwischenstopp im Apartment nur noch essen, dann doch in der Brauerei um die Ecke, und diesmal störte es mich überhaupt nicht, dass der Laden fast leer war. Es hat auch gut geschmeckt (Speckplatte und geschmorter Elch mit Pü) und das selbstgebraute Bier dort ist sehr süffig. Als dann aber die Liveband den ersten Soundcheck machte, machte ich mich vom Acker. Denn es klang sehr…. nach kölschem Karneval auf jazzig.

Die Großbaustelle hat sich inzwischen sehr verändert; ich hatte schon einen Plan, wie ich hier wieder rauskomme, aber den kann ich verwerfen. Denn die Straßenführung ist komplett anders als gestern. Das wird ein Spaß!

Hüvasti Tartus, Ihr Lieben! Wenn Ihr mögt…
Euer Gerald

Also, für mich kommt ja so ein Njet nicht in Frage 🙂 Grenzt ja an Unhöflichkeit!
Ach, ich glaube, den gibt es irgendwie üüberaall.