Ihr Lieben,
der Mensch soll etwas über 200 Knochen besitzen. Und etwa 650 Muskeln. Ich kann Euch versichern, es sind deutlich mehr, und jeder einzelne kann schmerzen.
Leider schlief ich wieder nicht so dolle, was natürlich auch am übertrieben langen Mittagsschlaf lag. Um 5 Uhr raffte ich mich auf, packte meine Siebensachen, holte mir Frühstückspaket und einen Kaffee ab und beglich meine Restschulden. Punkt 6 Uhr stand der Fahrer vor der Tür und brachte mich zum Hafen. Ein bisschen Zweifel hatte ich ja, ob ein elektronisches Ticket ausreichte, trugen doch wirklich alle anderen Passagiere einen Ausdruck mit sich herum. Aber man ließ mich an Bord, nachdem man mir mein Gepäck entrissen hatte. Würde ich es je wiedersehen?
Die Überfahrt? Ich sag mal so, man verteilte vor der Abfahrt Kotztüten. Ich stand meistens draußen an der Reling, das ist für mich bei Seegang der optimale Platz. Etwa eine Stunde dauert die Überfahrt. Schon bei der Einfahrt in den Hafen Porto Novo war ich ganz angetan von meiner neuen Insel, sie hat eine ganz andere Anmutung.





Profitipp: Wenn man mit dem Boarding in Mindelo wartet, bekommt man sein Gepäck in Porto Novo zuerst wieder. Ich bekam meins halt zum Schluss. Ein Fahrer, Jason, wartete schon auf mich und brachte mich zu meinem Hotel im Vale do Paúl. Die einstündige Fahrt über die Insel hat mir sehr gut gefallen. So pittoresk, so grün, einfach nur schön. Küstenstraßen wechselten sich mit Canyons ab, Orte voll bunter Häuser mit Plantagen. Ein paradiesisches Stück Erde.





Am Zielort angekommen, gab es eine Überraschung, von der ich noch nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Jason hielt an einem engen Aufgang, lud mein Gepäck aus und deutete auf einen kleinen, gelben Punkt 3 Kilometer über uns: „Your hotel!“. Ich solle warten, man sende jemanden für das Gepäck. Ich wartete, trank einen Schluck Wasser, machte ein paar Fotos, wartete, trank einen Schluck Wasser, schaute auf die Uhr. Nach 30 Minuten machte ich mich beherzt auf den Weg, um nach etwa 200 Metern einen ersten Schwächeanfall zu erleiden. Nach weiteren 200 Metern kam mir eine Niederländerin entgegen, die auch im Hotel wohnt. Sie rief für mich die Rezeption an, ja, man habe jemanden geschickt, aber von „der anderen Seite“. „Soll ich wieder zur Straße zurück?“. Ich sollte. Auf der Mauer am Abzweig saßen zwei kleine Mädchen. Ich setzte mich dazu und wartete, trank einen… Ihr wisst schon. Irgendwann kam eine andere Dame aus dem Nichts und schwallerte mich auf Kreol voll. Ich schwallerte auf Portanhol zurück. Dann schwallerte sie mit den Mädchen. Es stellte sich heraus, dass eine von denen mein Gepäcktransport war. Leute, ich war vielleicht was von angepisst. Das arme Ding. Mein Koffer wiegt 22 Kilogramm! Ich hatte aber auch noch meine zwei Handgepäckstücke und war nicht in der Lage, ihr zu helfen. Oben bekam sie das fetteste Trinkgeld ever und die Hotelmanagerin eine böse Schimpftirade ab. Ob wir jetzt noch Freunde werden?

Ich hatte während der Planung der Reise diverse Male erwähnt, dass ich keine Sportskanone bin. Dennoch buchte man mir ein Hotel hinter den Gipfeln von Barad-dûr, hoch in den Aschenbergen? Ich meine, der Ausblick ist bezaubernd, aber hier soll ich morgen wandern? Wo alles aussieht wie Eiger-Nordwand? Na, ich weiß ja nicht.
Ich legte mich erst einmal wieder hin. Hinlegen ist immer ein guter Plan. Nach einem kurzen Nickerchen fiel mir mein Frühstücksbeutel wieder ein. Noch nie war ein durchgeweichtes Käsesandwich sooo willkommen! Der Joghurt war zwar Kokos-Geschmack, aber erstaunlich lecker. Ich schaute mich anschließend auf dem Areal um. Das Hotel ist eines der Sorte, das man in den Alpen verklagen würde, hier aber urig findet. Ein deutliches Downgrade zu Mindelo. Aber ich habe es noch gut getroffen, es gibt Zimmer, da muss man über den Hof in sein Bad oder aufs Klo. Immerhin hat es einen „Pool“. Gut, bringt mich persönlich auch nicht weiter.




Es gibt hier viele Tiere, die machen einen Heidenlärm. Was erzählen sich Hähne, Hunde und Kühe eigentlich so den ganzen Tag? Ich kam mir vor wie auf einer Friedens-Konferenz. Laut, aber sinnlos.
Nun, ich könnte jetzt hier drei Tage angepisst rumgreinen, aber ich beschloss, noch weiter in die Berge vorzudringen. Begleitet von dem sehr zutraulichen Fernando (der blonde Hund). Ich sach mal so. Wenn für morgen 5 Stunden für die Wanderung veranschlagt sind, kommen wir 500 Meter weit. Aber es ist schon paradiesisch hier. Mangobäume, Kokospalmen, Zuckerrohr, Bananenstauden ohne Ende. Santo Antão verfügt über Quellen und – wie Madeira – über ein Levadasystem zur Wasserverteilung. Ich versuche mal, mich anzufreunden…







Ich versorgte mich nach meinem Mini-Ausflug mit Getränken aus dem Hotelkühlschrank, setzte mich unter das W-LAN-Signal und begann mein Tagebuch. Es wird ein wohl etwas beschaulicherer Reisepart, mit viel hier rumsitzen und mit Hunden und Katzen plaudern. Herrjeh, so geht es doch los, oder?
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Bei der Ankunft wurde ich gefragt, ob ich hier essen wolle? Ja, ich wollte. Denn man erreicht andere Speisewirtschaften hier ja nur mit alpiner Ausrüstung. Inzwischen waren andere Gäste angekommen, die mit poliglotter Zunge versuchten, zu erklären, ihr Gepäck stehe noch an der Straße unten. Sollte ich nachschauen, ob ich etwas nützliches finde? Denn die Chance, dass es umgehend geholt wird, ist gering. No Stress.
Ach, jetzt habe ich ja Muße, das kurz zu erläutern. Hier läuft alles ohne Stress. Sie möchten heute noch bestellen? Ach so, no Stress. Zuwenig Wechselgeld im Supermarkt? No Stress, man habe es nicht passend. Gepäck steht unbeaufsichtigt an der Straße? No Stress, kommt schon noch. Axt im Schädel? No Stress, wird schon wieder. Man lässt sich Zeit und macht sich die Welt, widewidewie sie ei’m gefällt. So ein bisschen mehr Entspanntheit täte uns Mitteleuropäern bestimmt gut, aber als profunde Lebenseinstellung ist das schon zuweilen anstrengend.
Freunde und Bekannte, die schon hier waren, berichteten davon, dass man hier unhöflich zu Touristen sei und dass die Kommunikation sehr steif verlaufe. Ich denke, wenn man sich ein bisschen auf die Mentalität einlässt und drei Worte Landessprache und ab und zu ein Lächeln bemüht, kommt man besser zurecht. No Stress.
Das Abendessen läuft hier so: es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Aber das war okay. Thunfisch, toter als totgebraten, dennoch essbar, dazu leckeres Gemüse: Maniok, Möhre, Kürbis.

Die Tischgesellschaft war bunt gemischt. Eine französische Familie aus den Alpen, ein Schweizer Pärchen aus Luzern, ein Niederländer aus Arnheim und zwei Belgier aus Brüssel. Man plauderte ziemlich ungezwungen miteinander.
Wieder auf dem Zimmer schrieb ich noch kurz eine WhatsApp an den Tour-Operator, dass ich es hier für eine Wanderung eindeutig zu steil fände. Beim Abendessen waren alle deutlich jünger als ich und alle waren sich einig, dass die Wanderungen hier sehr anspruchsvoll sind. Man antwortete mir, man berücksichtige das. Hömma, nachher werde ich hier noch zum Triathleten.
So, Ihr Lieben, mangels Dorfdisco lese ich jetzt mal ein bisschen in meinem Reiseführer. Ich freute mich sehr, wenn Ihr mich auch morgen wieder auf meiner Reise begleitet. Vielleicht kann der ein oder andere mich ja bei der Wanderung tragen. Liebe Grüße, Euer

P.S.: Stromschwankungen und Netzausfälle, ein Korrekturlesen entfällt. 😘