Ihr Lieben,
ich faule Sau hab doch tatsächlich bis 10 Uhr geschlafen. Ja, so wird das natürlich nichts mit größeren Erkundungsfahrten! Ich inhalierte ein paar Tassen Kaffee (im Grand Hotel Rolf gibt es handaufgegossenen Filterkaffee!) und man bot mir an, zusammen nach Sitges, etwa 30 Kilometer westlich von Barcelona gelegen, zu fahren. Ich hatte ja früher eine starke Abneigung gegen Mallorca, Gran Canaria und eben auch gegen bestimmte mediterrane Küstenstädte. Ich brachte das alles in Verbindung mit Saufgelagen, Nackedeis, die durch die Fußgängerzonen rennen (auf Rhodos in Faliraki übrigens schon erlebt!), unaufhaltsamen Verfall der Sitten. Würde ich auch hier eines Besseren belehrt werden und mich in den Ort schockverlieben?
Busfahrpläne in Barcelona vermitteln eher eine grobe Orientierung als eine verlässliche Aussage. Aber das ist ja in jeder Großstadt so. Daher warteten wir ein wenig auf die Linie 16. Dafür bekamen wir aber Bruce Willis als Fahrer, der wie ein Max Verstappen die Autopista entlangpeste, dass es eine adrenalinöse Schreckensfreude war. Laut Rolf waren wir fast 10 Minuten schneller am Ziel als sonst.
Sitges war seit den 80er Jahren ein bekannter Schwulen-Treffpunkt mit einem gewissen Ruf (siehe oben). Inzwischen hat sich die Szene dort fest etabliert und die Stadt war heute geschmückt für die nächste Woche stattfindende Pride, bzw. Orgull auf katalanisch. So eine wilde Busfahrt trocknet aus und daher fanden wir uns vor der ausführlichen Besichtigung erst einmal auf die Terrasse einer Gay-Bar ein, um ein Kaltgetränk zu uns zu nehmen.

Es ist erstaunlich, welche Klischees andere Gäste bedienten. So waren Albin und George aus „La cage aux folles“ anwesend, aber auch der dicke Bär, der sein T-Shirt so weit hochkrempelte, dass man seine prächtige, unglaublich behaarte Wampe bewundern konnte. Und der – wie mir erklärt wurde – eigentlich eher konservative, von Spaniern bevorzugte Badeort bietet diesen Menschen, bietet uns einen sicheren Raum. Ich lieb’s!
Wir liefen Richtung Strand und bogen nach links zum Wahrzeichen von Sitges ab, der überregional bekannten Kirche Sant Bartomeu i Santa Tecla. Bevor wir aber die Treppen dorthin erklommen, wandten wir uns rechts dem Segelclub zu, wo wir tatsächlich einen Tisch ergatterten, obwohl andere Restaurants auf dem Weg ziemlich überfüllt waren. Möglicherweise lag das daran, dass das Menú del día etwas hochpreisiger war und kein Getränk beinhaltete. Wer sich davon hat abschrecken lassen, dem ist etwas entgangen. Der Tisch direkt am Wasser, die tolle Aussicht! Schon der Hauswein überzeugte uns. Das Essen war speziell, „Schweinegeheimnis“ und Zwerchfellfleisch. Leute, ich war hin und weg! Die Muscheln, die ich vorweg hatte, schwammen in einem See aus Kräuterbutter und waren göttlich. Das Zwerchfellfleisch (was ist das eigentlich genau?) butterzart, die Beilagen raffiniert. Die Tarta de Santiago hinterher ein Gedicht! Eine zweite Flasche Wein und zwei Flaschen Wasser später waren wir dennoch nur den sprichwörtlichen Apfel samt Ei los. Aber psssst!!! Soll ein Geheimtipp bleiben!









Wir erkundeten die Gegend um die Kirche, sehr nett, sehr gepflegt. Otto machte Siesta unter einem undefinierbaren Baum, während Rolf mich zum Friedhof begleitete. Damit Ihr Bescheid wisst: ich habe mir Gruft 2811 ausgesucht, die ist frei und hat seitlichen Meerblick. Wunderbare Grabstätten gibt es da, es ist ein sehr idyllischer Ort. Wir liefen um den Friedhof außen herum wieder Richtung Sitges, sammelten Otto ein und streunten ein wenig durch die Gassen. Es war ziemlich heiß, so ließen wir den Strandspaziergang sein (am Ende stehen die Villen der Reichen und Schönen) und gönnten uns einen Abschiedsdrink.










Leider war der Bus, mit dem wir die Rückfahrt antreten wollten, überfüllt und ließ uns stehen. Wir eilten zum Bahnhof, wo wir dann den Zug nach Barcelona erwischten und in Sants ausstiegen. Von dort aus liefen wir dann noch 25 Minuten nach Hause.
Hat sich denn nun mein Vorurteil ins Gegenteil verkehrt? Teilweise ja. Der Ort ist viel netter als gedacht. Aber halbnackt durch die Fußgängerzone stolzierende Gecken brauche ich immer noch nicht.
Wir legten uns in Sant Antoni eine halbe Stunde hin, machten uns anschließend wieder stadtfein und gingen zu einer um die Ecke gelegenen Tapasbar, wo wir draußen einen freien Tisch erwischten. Wir hatten Tortilla, Chorizo, Käsefritten, Croquetas, Pan Tomate und Oliven para picar, also quasi zum Teilen. Wunderbar. Inzwischen wehte auch ein laues Lüftchen, das war erfrischend.

Barcelona ist schon ein wirklich l(i)ebenswertes Nest. Mir scheint, dass das Zusammenleben (noch?) klappt und man sich so sein lässt und so nimmt, wie man halt ist. Man sollte aber nicht ausblenden, dass es hier auch offensichtliche Probleme gibt, wie die große Zahl Obdachloser z. B. Zudem sind die Mieten explodiert. Davon unbeschadet können Expats und Touristen hier leben wie die Made im Speck.
Das war ein eher gemütlicher Tag mit viel Entspannung und ein bisschen Völlerei. Muss man sich auch mal gönnen.
Morgen habe ich gebuchtes Programm. Wenn Ihr mögt, gucken wir uns zusammen den Parc Güell an und schippern ein wenig vor der Stadt hin und her. Über Begleitung freue ich mich ja immer.
Liebe Grüße aus Barcelona, Euer

P. S. : Ich hatte nachts das Fenster offen gelassen und gegen morgen wurde ich durch wildes Geschnatter diskutierender Menschen wach. Im Dämmerschlaf mischte sich das mit kruden Träumen. Wollt Ihr mehr darüber wissen? Ja? Nun, Pech gehabt, so einen Unsinn kann ich unmöglich weitererzählen.

Gerry, deine Wandlung vom skeptischen Kulturkritiker zum sonnengeküssten Sitges-Connaisseur ist wahrlich ein soziologisches Meisterwerk!
Vom Sittenverfall zur Cava-Verklärung – und das alles dank Bruce Willis im Bus und einem strategisch gewählten Barhocker in der Gay-Bar.
Sitges hat nicht nur dein Herz, sondern offenbar auch dein Weltbild zart mariniert. Ich bin gespannt, welches Klischee du als Nächstes liebevoll zerlegst.
Danke für diesen launigen Kommentar. So weit zu gehen, dass sich mein Weltbild verändert hat, würde ich jetzt aber nicht gehen.
Dass man mit so lieben Freunden da ist, wertet ja auch jeden Ort auf. 🙂