Lugupeetud lugejad!
Heute Morgen hat es sich irgendwie eingenieselt, da habe ich den Tag ruhig angehen lassen und erst einmal ausgiebig Kaffee getrunken, ein bisschen Zeitung gelesen und rumgedöst. Irgendwann überkam mich dann aber doch die Lust, den Tag endlich zu starten, trotz des Regens, denn ich bin ja schließlich nicht aus Zucker. Kaum dass ich vor die Tür trat, entwickelte sich der Nieselregen zu einem Wolkenbruch. Und ich musste feststellen, dass ich doch aus Zucker bin. Ich wartete zehn Minuten unter dem Vordach, dann ließ der Regen erstaunlicherweise nach. Ich war schon kurz davor, zum im Gebäude befindlichen Friseur zu gehen, um mir die Haare schneiden zu lassen. Fünf Minuten später sah der Himmel fast so aus, als hätte es hier noch nie Regen gegeben. Das Wetter ist schon sehr komisch in Estland.
Als erstes erkundete ich den Hafen, ich wollte ein paar Kreuzfahrtschiffe sehen. Ich landete am Fährhafen, wo einige der wirkliche riesigen Fähren nach Helsinki und sonstwo lagen, das Kreuzfahrtschiffterminal scheint aber woanders zu sein. Trotzdem hatte ich etwas Hafenatmosphäre geschnuppert, das finde ich immer sehr spannend. Ich glaube mein Sternzeichen ist nicht Widder, sondern Boot mit Aszendent Nixe, irgendwas ist da mit mir und dem Wasser.
Dann versuchte ich, das Viertel Telliskivi zu finden, das mir als sehenswert beschrieben wurde. Ein Viertel, in dem Künstler und Kreative sich ausgebreitet und dem Viertel so einen Aufschwung gegeben haben sollen. Leider waren meine diversen Navigations-Apps mal wieder sehr uneinig, wie ich dorthin gelangen sollte. Ich glaube, für den Fußgängermodus sind sie noch nicht ausgereift genug.
Ich beschloss dann einfach, in eine Straßenbahn der Linie 1 zu steigen und an die Endhaltestelle zu fahren. Zu meinem Erstaunen fuhr die Straßenbahn dann über eine Haltestelle namens Telliskivi. Ich blieb trotzdem erst einmal bis zum Schluss sitzen, der hieß dann Kopli – laut meines Reiseführers ein verrufener Stadtteil. Dort gibt es nicht rasend viel zu sehen, es ist eine der nordwestlichen Landzungen Tallins. Erstaunlicherweise tummelten sich in der Bucht Hunderte von Schwänen, von denen ich bisher immer glaubte, sie seien Süßwasservögel. Außerdem gibt es dort noch eine Retro-Kneipe, die vielleicht für Trambahnfahrer gedacht war, in einem 50er- oder 60er-Jahre-Stil eingerichtet, und wo man sich preiswerter besaufen kann, als in der Innenstadt. Dort gibt es auch bezahlbare klassische Gerichte wie Soljanka und Pelmeni. Etwas Russisch angehaucht halt. Ach, und die Marineakademie steht da auch noch etwas protzig herum.
Bei der Hinfahrt wurde mir klar, dass diese Linie 1 am anderen Ende zum Schloss von Tallinn fährt, Kadriorg. Also nichts wie hin. Das Schloss liegt in einem sehr schönen Park, es gibt zudem ein Kunstmuseum, das Gästehaus von Peter dem Großen sowie andere nette Kleinigkeiten, wie Pavillons und Teiche. Es ist wirklich alles sehr hübsch. Eintrittsgelder habe ich mir aber gespart, da die Ausstellung im Schloss über alte dänische Meister ging, was mich nicht wirklich interessierte, und die Ausstellung im Kunstmuseum zu umfangreich war, um damit die kostbare, kurze Zeit in Tallinn zu vergeuden. Beinahe hätte ich aber im Museumscafé des Schlosses eine Pavlova gegessen, die sah so verführerisch aus! Aber dann hätte ich mich nur noch den Hügel herunterrollen können, um dann am nächsten Gegenstand, gegen den ich geprallt wäre, den Rest des Tages liegen zu bleiben. Oder man stelle sich vor, da wäre nur ein Teich gewesen! Blubb! Die Pavlova ist zwar nach der russischen Ballerina benannt, ist aber ein neuseeländisches Dessert, das kreiert wurde, als sie dort einmal auftrat. Nutzloses Wissen Teil 38164. Siehe auch Pêche Melba.
Ich lief also lieber noch zum Präsidialamt, so glaube ich jedenfalls, irgendetwas mit dem Präsidenten auf jeden Fall, und wanderte ein bisschen durch die Parkanlagen. Man pflanzte hier übrigens zwischen Blühpflanzen auch sehr viel krause Petersilie. So in Büschen von einem Meter Länge sieht das sehr gut aus. Eine pfiffige Idee. Und das Präsidialamt hat eigene Bienenstöcke.
Dann wieder in die Straßenbahn, wieder Richtung Kopli, aber diesmal an der Haltestelle Telliskivi ausgestiegen. Nun, das Viertel sieht irgendwie ganz hip aus, aber es ist ja in der heutigen Zeit sehr schwer, etwas wirklich hippes zu machen. Es ist, seien wir mal nett, nett. Ein bisschen sehr kommerziell, es gibt viele Läden für Klamotten, Handgeschnitztes, von führenden Pädagogen empfohlenes, unbezahlbares Spielzeug und dergleichen mehr. Dazu einige hippe Kneipen, aus denen mehr oder weniger laut Musik schallt, und alles über und über mit Graffiti beschmiert. Fertig ist das Künstlerviertel. Einige der Graffitis sind dann ganz nett. Aber die Fressbuden haben mich nicht gereizt.
Ich lief über den Bahnhof zurück Richtung Altstadt. Ich kam sogar an den „Drei Schwestern“ vorbei, wo, wir erinnern uns, die Präsidentensuite für n Appel und n Ei zu haben ist. Zudem fand ich noch einige hübsche, kleine Passagen, Häuser und Kirchen. Ich lief noch außerhalb der Stadtmauern ungefähr ein Viertel der Stadt entlang, bog dann wieder in die Stadt ein und kam auf einen großen Platz, wo sich alle auf den Marathon vorbereiten, der morgen und Sonntag hier stattfinden soll. Ich hoffe, der kommt mir bei meiner Abfahrt nicht in die Quere. Ich werde wohl sehr früh aufbrechen, damit die Gefahr minimiert wird. Abgesehen davon habe ich, nach der Lektüre meines Reiseführers, eine für morgen doch mehr als ambitionierte Route mit mehreren Zwischenstopps festgelegt.
Drei Schwestern
Straßenbahnfahren ist in Tallinn eigentlich sehr günstig. Ich hätte eine Tageskarte für 3 € kaufen können, aber das hat auf der App leider nicht funktioniert (der Anmeldeprozess startet auf Wunsch übrigens in Englisch, wechselt aber bei der Zahlungsoption ins Estnische – da ist dann eine gute Intuition gefragt). Ich habe also mehrere Einzeltickets gekauft, bis ich herausfand dass in der App QR-Tickets (Strichcodes) gekauft werden können, die dann nur die Hälfte kosten. Die Straßenbahnfahrerinnen und – fahrer selber bimmeln, was das Zeug hält, die Vorfahrt ist wohl eingebaut. Als die Bahn Richtung Schloss einmal nicht weiter kam, weil ein Auto auf den Schienen stand (was lernen wir in der Fahrschule? Fahre nie in eine besetzte Kreuzung ein!), erlebten wir eine völlig entfesselte Fahrerin. Sie bimmelte sich die Seele aus dem Leib, obwohl sie damit überhaupt nichts erreichen konnte. Aber es schien sehr befreiend für sie zu sein.
Fünf Stunden war ich so insgesamt unterwegs, den meisten Teil der Zeit zu Fuß. Eigentlich wollte ich heute Abend noch eine nächtliche Bootsfahrt unternehmen und davor sogar noch auf den Fernsehturm fahren. Aber, und jetzt bitte einmal alle mitfühlend etwas passendes murmeln: ich bin inzwischen auch in einem Alter angekommen, wo man einfach mal eine Pause braucht. Und ein Bier!
Ich war dann nach einem kurzen Zwischenstopp im Apartment nur noch essen, dann doch in der Brauerei um die Ecke, und diesmal störte es mich überhaupt nicht, dass der Laden fast leer war. Es hat auch gut geschmeckt (Speckplatte und geschmorter Elch mit Pü) und das selbstgebraute Bier dort ist sehr süffig. Als dann aber die Liveband den ersten Soundcheck machte, machte ich mich vom Acker. Denn es klang sehr…. nach kölschem Karneval auf jazzig.
Die Großbaustelle hat sich inzwischen sehr verändert; ich hatte schon einen Plan, wie ich hier wieder rauskomme, aber den kann ich verwerfen. Denn die Straßenführung ist komplett anders als gestern. Das wird ein Spaß!
Hüvasti Tartus, Ihr Lieben! Wenn Ihr mögt…
Euer Gerald