Tag 9: Der Abstecher nach Russland

Sveiks, Ihr Lieben!

Wir sind wieder in Lettland, wie Ihr an der Anrede merkt. Aber von vorne.

Nach einem kleinen Frühstück, es war alles ganz ordentlich, riss mich aber nicht vom Stuhl, lief ich zur Johanniskirche, die als sehr sehenswert angepriesen wird. Das Erstaunliche an dieser Kirche sind die ca. 1000 Terrakotta-Figuren, die früher die Nischen rund um das Portal sowie den Innenraum schmückten. Damit kommen sie zwar nicht an die Terrakottaarmee des Kaisers Qin heran, aber das ist ja auch schwierig. Nach dem Wiederaufbau der Kirche sind diese Figuren aber erst zu einem kleinen Teil restauriert bzw. nachgebildet und ausgestellt. Im Innern der Kirche wird einem das Ausmaß der Zerstörung der Kirche im Krieg klar, man hat wohl bewusst Strukturen unrestauriert belassen.

An der Universität vorbei lief ich den Domberg hinauf, besuchte die Engels- sowie die Teufelsbrücke, schaute mir kurz den Dom an und begab mich anschließend wieder ins „Tal“ zur Markthalle. Auf dem Weg sind mehrere Skulpturen ausgestellt, wie z.b. von Oscar Wilde, zusammen mit Eduard Vilde auf einer Bank sitzend, so wie die eines Bronzeschweins, an dem erläutert wird, welches Fleischstück aus welchem Teil des Tieres kommt, zudem eine Kunststoff-Badeente in XXXXL, die eine Medaille trägt. Wofür, weiß ich leider nicht. Übrigens sind die beiden nackten Männer von gestern Abend Vater und Sohn, aber die Erklärung aus dem Tourismus-Heftchen ließ mich über die Bedeutung im Dunkeln tappen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat der Bildhauer seinen Sohn sehr früh verloren. Eduard Vilde ist übrigens ein estnischer Dichter.

In der Markthalle hat mich erstaunt, dass ich in Europa Früchte angucken kann, von denen ich nicht weiß, was sie sind. Merkwürdige Beeren, seltsame Wurzeln, fremdartige Gewächse. Ich lief am Fluß Emajogi zurück zum Hotel, checkte aus und begab mich auf große Fahrt nach Daugavpils.

Auf dem Weg dahin stoppte ich in Aluksne, das kurz hinter der Grenze liegt. Es gibt dort Ruinen einer Ordensburg (wer glaubt, dass es im Baltikum mehr Einwohner als Burgen und Burgruinen gibt, hat mein Tagebuch nicht gelesen), ein neues Schloss von 1863, diverse Kirchen, haufenweise Springbrunnen und sehr schöne Parkanlagen.

Sehr hübsch ist auch die evangelisch-lutherische Kirche, die aber offensichtlich keinen Namen hat, denn weder im Reiseführer, noch bei Wikipedia wurde ich fündig. Nun ja, in Köln-Deutz gibt es ja auch ein Brauhaus ohne Namen, warum soll es in Aluksne nicht eine Kirche ohne Namen geben?

Extra für Matthias aus Basel bin ich dann noch zur Endhaltestelle der Schmalspurbahn zwischen Aluksne und Gulbene gefahren. Ich wollte für ihn wenigstens das Bahnhofsgebäude fotografieren. Doch welche Überraschung, die Bahn fuhr sogar mit zwei Waggons ein, als ich gerade ankam. So konnte ich ein kleines Video drehen. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre ich auch noch nach Gulbene mit der Bahn gefahren (und natürlich wieder zurück). Aber meine Zeit ist viel zu knapp bemessen. Nun, das war mir von vornherein ja klar.

Auf dem Weg nach Daugavpils wollte ich noch zwei andere Orte besuchen, die sogar in der dortigen Umgebung liegen. Es handelt sich zum einen um das Altgläubigen-Dorf Slutiški, zum anderen um das ursprüngliche Daugavpils, das frühere Dinaburga. Dort gibt es, wer ahnt es?, Ruinen zu bestaunen. Aber die Strecken hier im Osten Estlands und Lettlands ziehen sich wie Kaugummi. Eine Autobahn gibt es natürlich nicht, aber selbst von Bundesstraßenniveau sind die Verbindungen hier weit entfernt. Da ich mit Ludwig Zisch immer vertrauter werde (ich weiß jetzt, wie ein Tempomat geht!!!), konnte ich die heutige Durchschnittsgeschwindigkeit ermitteln: 65 km/h. Und als das Navi mich kurz vor Daugavpils dann noch auf eine Schotterstraße führen wollte, es aber inzwischen schon kurz vor 18 Uhr war, beschloss ich die Ausflüge sein zu lassen und zu schauen, ob ich sie morgen eventuell noch einschieben kann.

Ich hatte etwas Schwierigkeiten, mein Hotel in Daugavpils zu finden, da es sehr versteckt liegt und ich die Anweisungen des Navis missinterpretiert habe. Die Gegend ist etwas zwielichtig, aber das Hotel ist sehr schön. Vor mir checkte eine Gruppe Asiaten ein, die sich nicht darüber einkriegten, dass ihr Autostellplatz ein sicherer Parkplatz sein solle (die Rezeptionistin beteuerte, alles sei videoüberwacht) und dass sie in bar zahlen sollten. Ich hatte bei der Reservierung gelesen, dass das erforderlich ist. Ist aber auch ungewöhnlich. Später traf ich die Truppe in der Stadt, sie war dann sehr ausgelassen und fröhlich. Man muss sich eben halt manchmal mit den Gegebenheiten abfinden. Und man fühlt sich besser, wenn man sich darüber freut, als wenn man sich Sorgen macht. Binsenweisheit Nummer 1374, heute zum Sonderpreis.

Das Zimmer kostet übrigens ein Drittel von dem von gestern, ist aber genauso gut ausgestattet. Warum das eventuell so ist, erfahren wir gleich.

Damit ich morgen nicht allzu viel Zeit investiere, beschloss ich noch am Abend die zentralen Sehenswürdigkeiten von Daugavpils abzulaufen. Dies ist die Gegend um die Rigaer Straße, dort ein paar verstreute Kirchen, Theater, Konzertsäle und Parks. Die Zarenfestung werde ich erst morgen früh besuchen, da sie jetzt schon geschlossen ist. Wenn es irgendwie geht, besuche ich noch das Vierkirchenviertel, Dinaburga, und eventuell – je nachdem, wann ich aufstehe – das Altgläubigendorf, das ich heute verpasst habe.

Warum ist hier alles so billig? Bier 1,50! Juchhe (J.Brahms)! Der folgende Satz ist eine reine Feststellung: wir sind hier quasi in Russland. Die Jugend auf der Straße spricht russisch, die Verkäuferinnen im Laden sprechen russisch, das ganze Wesen der Menschen die hier leben, ist russisch. Die Mentalität unterscheidet sich deutlich von denen auf von mir bisher besuchten Gebieten im Baltikum. Dafür fühle ich mich an meine vielen Russlandaufenthalte umso mehr erinnert. Daugavpils versucht sich aufzuhübschen, aber in der russischen Mentalität endet der Sinn fürs Gemeinwohl hinter der Wohnungstüre, und damit meine ich die Seite zum Treppenhaus hin. Man ist eigentlich eher unfreundlich, ein bisschen laut, ein bisschen desinteressiert. Das ist jetzt natürlich alles über einen sehr, sehr groben Kamm geschert und ein Allgemeinplatz sondergleichen, aber wer Russland und dazu dann auch vielleicht das Baltikum kennt, würde mir möglicherweise zustimmen. Trotzdem fühle ich mich hier nicht unwohl. Aber eine touristische Erschließung wird sich hier noch hinziehen. Und das bedeutet: Kein Tourist, kein teuer.

Mein Abendessen heute war unspannend. Ich war in einem 24-Stunden-Supermarkt, bestaunte erneut Dinge, die ich nicht kannte und orderte an einer Art Fleischtheke Frikadellen und Blätterteiggebäck, aus dem Füllung quoll. Das nahm ich dann zu mir und es war auch sehr lecker.

Morgen muss ich recht früh aufbrechen, denn meine neue Vermieterin in Vilnius, wo ich ein Apartment für zwei Nächte gebucht habe, ist keiner mir bekannten Sprache mächtig; resp. ich keiner ihr bekannten. Als ich ihr erklärte, ich wollte hier in Daugavpils um 13:30 Uhr losfahren, schrieb sie, sie sei dann um 13 Uhr 30 in ihrem Apartment. In Vilnius, das mehr als zweieinhalb Stunden von hier entfernt ist. Nun ja, mal sehen, was ich alles in dieser kurzen Zeit schaffe. Aber ich bin ja nicht undankbar, dass ich das Apartment in Vilnius schon so früh beziehen kann, denn Vilnius ist die größte Stadt, die ich besuche, und daher gibt es wohl ausreichend zu entdecken. Ich will aber nur zwei Nächte bleiben, weil ich unbedingt auch Zeit an der Kurischen Nehrung verbringen will und auf dem Weg dorthin noch Trakai, Kaunas und den Berg der Kreuze sehen möchte.

Es werden noch Wetten angenommen, was ich wie in welcher Zeit schaffe.

Wenn ihr das erfahren möchtet, freue ich mich, Euch hier morgen wiederzusehen.

Euer Gerald

Oscar, Gerald und Eduard beim entspannten Plausch
Heino hat in Tartu offensichtlich eine Musikschule. Hannelore wird hier liebevoll Elleri genannt.

4 Gedanken zu „Tag 9: Der Abstecher nach Russland“

  1. Da ich ja gerade 13 Tage nacheinander lese, bin ich wirklich sehr gespannt auf den kommenden Bericht über Vilnius. Vilnius und ich hatten ja so unsere Probleme warm zu werden, das war allerdings 2008… Mal lesen, wie es dir ergangen ist.

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