Ihr Lieben,
Der sonst hier übliche Programmpunkt fällt heute leider aus. Frühstück gab es nicht, ich hatte auch keins mitgebucht. Ich musste einfach viel zu früh raus! Das Hotel selbst ist aber wirklich schön, angefangen vom Servicepersonal, über die tolle Dachterrasse bis hin zum makellos sauberen Zimmer! Und ich hatte keinen Anreisestress (siehe die gestrige Katastrophe). Geschlafen habe ich allerdings fast gar nicht, aber obwohl mir die Gefahr des Verpennens hoch erschien, döste ich bei Vollbeleuchtung und laufendem Fernseher ein bisschen.
Der Flug war pünktlich und sehr angenehm. Es waren viele kleine Kinder an Bord, aber die Eltern hatten alles im Griff! Sogar der Mittelsitz neben mir war frei, ein Umstand der mir sehr viel Freude bereitete. Da ich in Reihe 2 saß, war ich auch sehr schnell an der Passkontrolle und aus dem Flughafen raus. Der Bus in die Stadt fährt leider nur alle 90 Minuten, wenn überhaupt, die Personen die ich befragte, waren unsicher, ob an einem Feiertag überhaupt ein Bus kommt. Ein Taxi hielt vor mir an, der Taxifahrer wollte 30 Mark bis ins Zentrum. Das erschien mir hoch und ich nahm das nächste Taxi mit einem älteren Herrn als Fahrer, der den Taxameter anschmiss. Und siehe da, mit großzügigen Trinkgeld war ich gerade mal bei 20 Mark. Mark? Hat der Gerry sie nicht mehr alle? Naja, die bosnische Währung heißt Bosnien-Herzegowinische Konvertible Mark. Von denen hatte ich mir ein paar an einem Automaten im Flughafengebäude gezogen. Und sie ist tatsächlich so viel wert wie die D-Mark.
Mein Zimmer in der Pension war natürlich noch nicht fertig, aber ich konnte mein Miniköfferchen an der Rezeption lassen und begab mich umgehend auf Stadterkundung. Mein erster Weg führte mich zur Seilbahn, die auf den olympischen Berg fährt. Da ich so früh da war, hatte ich eine Kabine ganz für mich alleine. Ich nehme es vorweg: als ich nachher wieder runter kam, stand eine schier endlose Schlange für Tickets an. Deswegen empfehlen wir dringend, den 6 Uhr-Flug von Köln zu nehmen!! 🤪 Oben auf dem Berg hat man eine fantastische Aussicht auf Sarajevo. Ich trank in der Cafeteria einen Kaffee, aß ein Croissant, lief in der frischen Luft ein bisschen herum (Pflichtprogramm sind ja das Olympia-Zeichen [wer war da wohl Hauptsponsor?] und die inzwischen völlig zerstörte Rodelbahn), bevor ich mich wieder auf den Weg nach unten machte. Eigentlich ist die Seilbahn nicht so schlimm, aber auf dem Rückweg hielt sie mit einem derben Ruck einmal mittendrin an, da setzt bei mir ja sofort Herzkasper ein.









Ich lief in die Altstadt Baščaršija. Ein Träumchen, insbesondere für die Liebhaber chinesischen Touristenkitschs. Aber im Ernst, es ist wirklich sehr nett da. Ich trank einen bosnischen Kaffee, der sich dadurch auszeichnet, dass in der Kaffeetasse ein Stück Lokum liegt, dass man übergießt. Das fand ich sehr gewöhnungsbedürftig, aber der Kaffee an sich ist sehr, sehr lecker, die Bosnier sind zu recht stolz auf ihren Kaffee. Dazu gab es eine bosnische Cola namens Cockta. In der Mi-tte des zentralen Platzes steht ein Brunnen, eines der Wahrzeichen von Sarajevo, an dem sich sehr viele Tauben tummeln. Körnerverkäuferinnen tragen dazu bei, dass es ein wildes Geflattere und Gewusel ist, aber die Kinder haben einen Heidenspaß. Ich selbst bin ja kein erklärter Taubenfreund! Ich lief ziemlich lange durch die Altstadt, bestimmt zwei Drittel des geführten Rundgangs, den ich gebucht hatte, hatte ich quasi schon vorher absolviert. Sarajevo ist wirklich nett, ich war – glaube ich – in einer Karawanserei, habe von außen Kirchen und Moscheen besichtigt; es gibt sehr viele schöne alte Fassaden, es gibt aber natürlich auch den sozialistischen Klotzbau. Immer wieder erhascht man, wenn man in die Gassen schaut, einen Blick auf die Sarajevo umgebenden Berge, es gibt mehrere Parks und andere Grünflächen, es ist schon sehr schön hier. Begünstigt wird dieser Eindruck natürlich durch das perfekte Wetter.










Kurz bevor meine geführte Stadtbesichtigung losging, gönnte ich mir ein Bier in der Sonne. 4 Mark der halbe Liter! Gaaaanz wunderbar!

Die Stadtführung war dann etwas ausführlicher als meine eigene Erkundungstour, vor allen Dingen untermalt mit hilfreichen Erläuterungen. Die Führung war sehr dünn besetzt, es hatten sich sehr viele Menschen angemeldet, es sind aber mehrere einfach nicht erschienen. Für den Rest der Truppe war das natürlich ein Vorteil, sie hatten mehr von Kenel, dem geschichtlich, ethnologisch, sprachlich und religionswissenschaftlich sehr bewanderten, sehr jungen Mann. Er sprach sehr schnell und fließend Englisch, aber ich kam ganz gut mit. Ich habe die kleinste, die größte, die älteste, die neueste, die wichtigste, die interessanteste Moschee, die kleinste, die größte, die älteste, die neueste, die wichtigste, die interessanteste Kirche etc pp gesehen, viele Informationen zum bosnischen Krieg und der Belagerung Sarajevos als auch zu den Umständen des Attentats, das zum ersten Weltkrieg führte, erhalten. Wir lernten, wann und wo wer was gebaut hat, besuchten das Judenviertel, schauten einem Kupferschmied bei der Arbeit zu, bekamen Anekdoten und Gespenstergeschichten erzählt, Namen von Berühmtheiten wurden uns um die Ohren gepfeffert und die Etymologie der Ortsnamen kam als Sahnehäubchen oben drauf. Ich war am Ende fix und fertig, erstens wegen der vielen, vielen Informationen und zweitens, weil ich gefühlt 30 km gelaufen war.













Sarajevo ist stark muslimisch geprägt, es gibt nicht überall Alkohol. Am Ende der Tour wurde uns eine Dachterrasse empfohlen, von der man einen schönen Blick auf die Stadt hat, dort hätte ich gerne einen Wein getrunken, aber es gab nur Kaffee und Saft. Stattdessen enterte ich einen der wenigen geöffneten Supermärkte, wenn nicht sogar den einzigen, erstand dort äußerst hochpreisigen italienischen Wein und ein paar Nüsse. Dann checkte ich in mein Zimmer ein und erfuhr, es wird Schwierigkeiten mit dem Frühstück morgen geben, denn es ist schon wieder ein Feiertag und mein Bus fährt sehr früh nach Mostar ab. Der Rezeptionist brachte Brot und Käse für den Zimmer-Kühlschrank sowie einen Wasserkocher und löslichen Kaffee. Übrigens sind alle hier in der Stadt furchtbar nett und hilfsbereit. Mit Englisch und Russisch (die paar Brocken helfen durchaus) kommt man prima zurecht.
Ich nahm erst einmal eine Dusche und suchte mir dann einen Happen zu essen. Ich ließ mich an den ersten freien Tisch fallen, der in der Nachbarschaft zu finden war, der Kellner kam und fragte „Beer and mixed grill?“, ich war dankbar für so viel psychologisches Einfühlungsvermögen und nickte nur schwach. Es war lecker (wahrscheinlich hätte ich aber auch einen Saumagen verschlungen!) und preiswert.



Ich erhaschte dann noch sozialistisches Feeling beim Anstehen in einem Supermarkt, wo ich noch Milch für den Kaffee kaufen wollte (hier nur Barzahlung!) und eierte dann zurück in die Pension.
Sarajewo? Gefällt mir. Man hat sehr viel wieder originalgetreu aufgebaut. In vielen Fassaden sieht man Schrapnelllöcher. Alle sind so nett. Die Bosniaken, die bosnischen Kroaten, die bosnischen Serben. Dennoch gibt es mehrere Kriegsmuseen, die an Belagerung, Zerstörung, Genozid erinnern. Wie konnte das passieren? Jozip Brosz, Spitzname Tito, sagte Ende der 70er „Wenn ich euch die Demokratie gebe, werdet ihr euch die Köpfe einschlagen.“. Leider hatte er wohl recht. Die Faktoren Nationalstolz, Hass auf andere und Demagogie sind aber die Gründe. Nicht die Demokratie. Das, was wir gerade bei uns wachsen und gedeihen sehen. Die gestern angesprochene Religions- und Völkervielfalt ist eine Bereicherung für „das Jerusalem des Balkan“. Aber es machte es auch zu einem Pulverfass. Hoffentlich hat „Jugoslawien“ etwas aus der Vergangenheit gelernt. Bei Vučić habe ich allerdings Zweifel.
So, morgen Tagesausflug. Seid Ihr dabei? Liebe Grüße, Euer

P.S.: Geld abheben ist mega teuer hier. Blöde D-Mark!

Lieber Gerry,
was für ein fulminanter Start in dein Bosnien-Herzegowina-Abenteuer!
Dein Reisebericht liest sich wie ein spannender Roman – mit dem Unterschied, dass die Bilder lebendig sind und der Autor einen ausgezeichneten Sinn für Humor hat.
Danke, dass du uns mit auf diese Reise nimmst. Ich freue mich schon auf die nächsten Etappen und bin gespannt, welche Abenteuer noch auf dich warten.
Vielen Dank für die Komplimente, das ist sehr nett.
Ja, geplant war ja eine gemeinsame Reise. Nun bist du aber doch auch irgendwie dabei. Hättest Du mich etwa gebremst?🤭
Nein, höchstens beim Hoch- und Runterkrabbeln.