Bosnien-Herzegowina 2025 – Tag 3: auf der Suche nach den verlorenen Dingen

Ihr Lieben,

es ist Euch vielleicht aufgefallen, aber seit kurzer Zeit fehlen in meinem Text ein paar Buchstaben… so wird der Tag nach Dienstag twoch geschrieben. Manchmal fehlt das Wort, das in anderen Sprachen „with“, „con“ oder „avec“ heißt. Im Editor sieht das richtig aus, hier dann leider nicht. Ich bin diesem Bug auf der Spur, aber nicht hier in Sarajevo.

Edit: Problem behoben! YEAH!!!

Heute morgen schon hatte ich Panikmomente. Mein Zimmerschlüssel war weg! Irgendwie war ich ja ins Zimmer gekommen, also musste er im Zimmer sein. Ich kehrte alles von oben nach unten, durchwühlte alle meine Plünnen, kroch unters Bett… vergeblich, kein Schlüssel. Ich ging erst einmal frühstücken, das Zimmer liegt direkt gegenüber dem Frühstücksraum an der Rezeption (übrigens ein mehr als kleines Manko) und so hatte ich es im Auge. Das Frühstück selbst war etwas bescheiden, aber wir erinnern uns, ich bin in einer Pension und in nicht in einem Luxushotel. Etwas skurril war nur, dass ankommende Gäste warten mussten, bis andere gingen, was nicht an fehlenden Sitzplätzen, sondern an fehlendem Geschirr lag. Für mich gab es noch Eier, für die nachkommenden Gäste nicht, die frühen Frühstücker hätten zu viele Eier konsumiert. Amerikaner? (böser Gerry!)

Wie sagte schon der berühmte Philosoph Edgar di Lepeldro: „Nach der Panik sollte Systematik einsetzen!“. Die bemühte ich dann nach dem Frühstück. Wo könnte der Schlüssel sein? Ich hatte noch nicht unter dem Kühlschrank geguckt, aber wie sollte der Schlüssel auch unter den Kühlschrank kommen, haha? So ein Unsinn, haha!! Der Schlüssel lag natürlich unter dem Kühlschrank. Breiten wir bitte den Mantel des Schweigens über diese Geschichte aus.

Nun aber zum Tagesgeschäft, ich werde ja schließlich nicht fürs Schlüsselsuchen bezahlt. Moment, „bezahlt“? Naja, man wird ja wohl noch einmal träumen dürfen. Da der liebe Gerry lernresistent ist, lief er natürlich wieder einen Berg hinauf, diesmal zur gelben Bastion. Bei gefühlten 40° C im Schatten schon am frühen Morgen, war ich oben angekommen schon durchgeschwitzt wie nix. Mein Wortschatz ist ziemlich beschränkt, daher: die Aussicht ist wieder einmal nur spektakulär. Die gelbe Bastion selbst, deren Eingang ich suchte und suchte und irgendwann fand, ist nicht besuchbar; ich unterhielt mich mit einem Rohre über die Mauer schmeißenden Bauarbeiter, der mir erklärte, dass sie seit dem Krieg, schwer beschädigt übrigens, geschlossen ist. Aber immerhin gibt es einen Bauarbeiter vor Ort, vielleicht tut sich in Zukunft etwas. Vielleicht war es aber auch nur ein Metalldieb.

Der Aufstieg lohnt sich nicht allein wegen des Ausblicks, sondern auch wegen eines sehr schönen Cafés (nicht direkt an der ersten Festungsmauer, sondern noch ein Stück die Straße hoch), wo man einen bosanska kahva trinken und dabei trocknen kann. Wenn man mehrere slawische Sprachen spricht, ist Bosnisch übrigens leicht zu erlernen. Leider spreche ich solche Sprachen ja nicht, aber es wird wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass ich mich in Teilen bemühe. Allerdings sollte es mir vielleicht zu denken geben, dass man die Musik von bosnisch auf spanisch umschaltete, sobald ich meinen Kaffee bekommen hatte. Die Heino-CD war wahrscheinlich verschollen.

Da ich nun schon einmal auf den Berg gekraxelt war, lief ich durch die Wohngebiete am Hang herum. Wahrscheinlich als einziger Tourist. Überhaupt als einziger Mensch, die Straßen und Gassen waren wie ausgestorben. Kurz vor der Bastion gibt es wieder einen sehr großen Friedhof, es dominieren die Sterbedaten 92 bis 94. Der Krieg ist auch nach 30 Jahren allgegenwärtig.

Mit (with) dem nächsten Tagesordnungspunkt vereinte ich direkt mehrere touristische Highlights von Sarajevo. Ich fuhr auf einer der ältesten Straßenbahnlinien der Welt (die Österreicher haben hier Testballons fahren lassen, bevor Sie mit dem Bau in Wien anfingen), besuchte einen Konsumtempel (der mich jetzt nicht so beeindruckt hat) und landete im Nationalmuseum von Bosnien-Herzegowina. Leute, das ist fantastisch! Hier kann man einen ganzen Tag verbringen, theoretisch. Falls ihr also einmal einen Kurztrip nach Sarajevo planen solltet, dann unbedingt mit mindestens vier bis fünf Stunden für dieses Museum.

Die verschiedenen Abteilungen behandeln Archäologie, Flora und Fauna, Geologie, Aspekte des früheren Alltagslebens und vieles mehr. Die Qualität der Präsentation reicht dabei von altbacken (Schmetterlingssammlung) bis herausragend (prähistorische Ausstellung). Insbesondere Nerds kommen hier bestimmt auf ihre Kosten, z.B. in der Käferausstellung oder in der Mineralienkollektion. In einem Gebäudeteil wurde das Ende des Vietnamkriegs thematisiert. Wenn man dem Museum also etwas vorwerfen kann, dann, dass es einfach zu viel ist. Ein weiterer guter Grund, hier zu verweilen: es ist angenehm kühl in dem wunderschönen Gebäude, das einen entzückenden kleinen, wenn auch unspektakulären Botanischen Garten im Hof beherbergt. Die früher wohl existierende Cafeteria musste Getränkeautomaten weichen, aber selbst der Kaffee aus dem Automaten hat bosnische Qualität.

Dass man Schilder anbringen muss, dass man bestimmte, eigentlich selbstverständliche Dinge nicht tun sollte, sagt übrigens viel über unsere Gesellschaft aus.

Bei der Stadtführung vorgestern besuchten wir ja auch das jüdische Viertel, dort erzählte uns unser Guide, dass Sarajevo eines der kostbarsten Bücher der Welt bewahrt, eine sehr alte jüdische Haggadah. Diese ist so wertvoll, dass sie Kenel zufolge nur an zwei Tagen für jeweils zwei Stunden der Öffentlichkeit präsentiert wird. Ich hatte Glück, die Kammer mit der Haggadah war heute geöffnet. Der Wert dieses Buches wurde einmal versehentlich auf 700 Millionen Dollar geschätzt, aber das Gutachten enthielt einen Zeichenfehler. Aber es dürfte, insbesondere bei Sammlern, dennoch einen Millionenbetrag erzielen. Ich erstand ein Faksimile, vielleicht irrt sich ein Gutachter ja auch bei mir und ich habe für immer ausgesorgt.

Ich lief zurück in die Stadt, an der Statue des ersten bosnischen Königs Trvtko I, am Erinnerungspark und dem Mahnmal für die ermordeten bosnischen Kinder (Stich ins Herz, mal wieder) vorbei bis zum Markale. Überall in Sarajevo sind stilisierte, große Rosen in den Boden gemeißelt. Jede steht für einen Platz, an dem mindestens drei Menschen starben. Es gibt etwa 200 solcher Rosen und sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Märkte und ich haben ein zwiespältiges Verhältnis zueinander. Einerseits liebe ich sie sehr, andererseits weigern sie sich, ihre Öffnungszeiten an meine Bedürfnisse anzupassen. So war dort, wie übrigens auch im Museum, nicht mehr viel los, als ich ankam. Andererseits bin ich inzwischen ja froh, dass es auch mal nicht so ganz trubelige Plätze gibt. In der Baščaršija gibt es übrigens edel gestaltete Innenpassagen, die ebenfalls nicht so überlaufen sind. Dabei schätze ich sehr, dass es hier keine Basarmentalität gibt, handeln ist hier unüblich.

Ich nahm mal wieder eine gehopfte Belohnung zu mir, am Nachbartisch junge Skandinavier, die sich nach allen Kräften bemühten, sich die Kante zu geben. Mehrheitlich ist der Tourist hier auch eher jünger als ich. Wen wundert es? Für alte Knochen ist das Auf und Ab nicht gemacht. Und BIH ist wohl eher ein hippes Reiseziel und ältere Menschen haben es nicht so wirklich auf dem Schirm. Eine Ausnahme bilden Rudel älterer, meist vermummter türkischer Frauen, die sich hier vielleicht sicherer wähnen, als in anderen europäischen Ländern. Vermutlich zu recht. Und Skandinavier, die sich die Kante geben? Naja, das Bier kostet hier ein Zehntel, man denke an meinen Norwegen-Bericht.

Ich verbrachte den Rest des Tages im Baščaršija-Viertel, betrieb Sightseeing, Shopping und Genießing und vergaß beim Einkaufen, dass ich ja gar keinen Koffer mithabe. Mal sehen, wie ich das Problem mit Getränken und Baklava-Paketen löse. Wahrscheinlich buche ich mein Täschchen noch zum Aufgabegepäck um. Die Alternative, alles noch vor Abflug zu verzehren, kommt selbst für mich nicht in Frage… 😁

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Kurze Verschnaufpause auf dem Zimmer… hier könnte übrigens IHRE Werbung stehen!

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Als alt… äh… junggebliebenes Gewohnheitstier kehrte ich abends wieder im Pod Lipom ein. Ich wusste, dass ich den Wein dort mochte und dass er bezahlbar war. Diesmal nahm ich Sish Kebab, Salat und gebackene Kartoffeln. Ganz wunderbar! Gurke, Tomate und Salat kommen hier mit Geschmacksverstärker auf den Tisch, anders kann ich mir den hohen Schmackofatzfaktor nicht erklären. 😜 Das Kalb butterzart, und die Kartoffeln… die Kartoffeln… Elke, Du verstehst mich, gelle? Und da man hier auch Köpfe und Kutteln und dergleichen serviert, könnt Ihr erahnen, wie toll die Brühe ist, die hier traditionellerweise die Sauce ersetzt.

Das Problem mit dem Koffer löste ich, indem ich den Schnaps an den Rezeptionisten weitergab. Der freute sich sehr und bestellte mir ein Taxi für kurz nach Mitternacht, aka 6 Uhr früh. Ich verstaute alles andere nach präzisen geometrischen Anweisungen aus der mystischen Kabbala und bekam den Koffer tatsächlich zu. Ein Mirakel! Nur wiegen darf ihn keiner.

Ihr Lieben, die Reise ist schon wieder vorbei, mein Flieger geht morgen früh um 8 Uhr etwas. Eigentlich war Bosnien-Herzegowina nur ein weiteres Land zum „Abhaken“. Ich bin aber so dermaßen positiv überrascht, dass ich eine Wiederkehr weit weniger ausschließe als befürchte. Mostar, auch wenn überfüllt, ist die Hübsche. Sarajevo ist die Interessante und daher für mich erste Wahl. Land(schaften) und Leute sind wunderbar. Ich kann nur jedem raten, hierherzukommen, bevor das alles hier völlig überrannt wird und an Charme verliert. Die blutige Geschichte scheint überwunden, aber das dachte man ja schon oft an anderer Stelle. Andererseits, 1975 war auch 30 Jahre nach deutschem Kriegsende, um das mal ins Verhältnis zu setzen. Die vielen Zeichen der Ermahnung in Bosnien-Herzegowina helfen hoffentlich gegen das Vergessen.

Vielen Dank wieder einmal für die tolle Begleitung durch Euch und Eure vielen Rückmeldungen in meinen Status und durch PNs! Wir sehen uns, oder? Vielleicht in Bukarest. Liebe Grüße, Euer

Bosnien-Herzegowina? 9 von 10 Gerrys.

4 Gedanken zu „Bosnien-Herzegowina 2025 – Tag 3: auf der Suche nach den verlorenen Dingen“

  1. Ein schöner, auch bewegender Beitrag – mit Bildern, die nicht nur Landschaft zeigen, sondern Geschichte atmen.
    Mich bedrücken solche Orte immer wieder aufs Neue, weil sie Erinnerungen an den Krieg in Jugoslawien wachrufen, die schwer auf der Seele liegen. Und ehrlich gesagt, manchmal auch mit einer gewissen Scham verbunden sind – dafür, wie wenig wir damals verstanden (wollten) oder getan haben.
    Zum Beispiel eben die Belagerung von Sarajevo.
    Umso wichtiger, dass du diese „verlorenen Dinge“ suchst – und dabei vielleicht auch ein paar verdrängte Wahrheiten wieder ans Licht holst.
    Danke für deine Reiseberichte mit Tiefgang (und einer Prise Humor, die trotzdem nicht fehlt)!
    Guten Heimflug wünsche ich dir!

  2. Danke für den tollen Bericht, ich fühlte mich 35 Jahre jünger und finde es super, daß sich an Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der einheimischen nichts geändert hat.

    LG Dagmar

    1. Ja, die war, liebe Dagmar, wirklich herausragend.
      Da können wir uns – jedenfalls in Köln, wo ich dauernd beobachten kann, dass Menschen offensichtlich etwas suchen und keiner sie anspricht – eine Scheibe abschneiden.

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