Ihr Lieben,
sonntags hat das Restaurant geschlossen, daher gab es das Frühstück in einem kleinen Aufenthaltsraum am Ende des Ganges meiner Etage. Es ist sehr frugal. Hartestgekochte Eier (die mit dem grünen Dotter!), Marmelade und Toast. Naja, ich sollte ja auch nicht mit zu schwerem Magen auf Stadterkundungstour gehen.
Das Bett war gewöhnungsbedürftig; noch nie ist ein Mensch dem Erdkern näher gewesen, so durchgelegen und dünn war die Matratze. Aber anderes wiederum ist im B&B ja ganz stimmig und charmant. Eben mal etwas anderes als Dresdner Luxustempel, die dann auch ihre Schwächen offenbaren.
Ich suchte schon zuhause auf den gängigen Tour-Portalen nach einer Stadtführung und wurde bei der mir bis dato unbekannten Seite „Guruwalk“ fündig. Koli würde mir 3 Stunden lang seine Stadt zeigen und erklären. Das Besondere an der ganzen Sache gegenüber z.B. „getyourguide“ ist, dass man nur zahlen soll, was man möchte. Jetzt bin ich ja nicht als kniepig bekannt, aber die ganze Kommunikation über WhatsApp entwickelte sich dahingehend, dass ich offensichtlich der einzige Tourist in seiner Gruppe bin. Ja, was gibt man dem Mann denn da, um Himmelswillen?
Apropos Preise: Ich erwähnte ja schon im Prolog, dass Albanien wohl nicht mehr das Pfennigland für den knausrigen Touristen zu sein scheint. Zumindest in Tirana fühle ich mich in der Annahme bestätigt. Ein Burger kostet hier im Schnellimbiss eben auch mal umgerechnet 6,50 Euro. Die Pizza gestern schlug mit 7,50 Euro zu Buche, das Bier mit 3,70 Euro. Der Rotwein, den ich als Absacker nahm, war hingegen spottbillig und lecker: 2,50 Euro. Kein Vergleich zu der 16-Euro-Flasche aus den Albaner Bergen. Der Tropfen konnte allerdings auch was!
Zurück zu Koli: Er schrieb mir dankenswerterweise noch, dass ich an die Zeitumstellung denken solle, nicht, dass wir uns verpassten. Um 9 Uhr 30 Winterzeit (zu Deutschland gibt es keine Zeitverschiebung) trafen wir uns am Reiterdenkmal auf dem Skanderbeg-Platz. Und tatsächlich war ich sein einziger Kunde.
Es war eine total spannende Stadtführung. Klar, so alleine kann man ja die allerdümmsten Fragen stellen und muss nicht genervt sein von den saudummen Fragen anderer.
Man kann diese Führung schlecht zusammenfassen, es war ein wilder Ritt durch Jahrhunderte der Geschichte Albaniens und Tiranas. Es fing an mit Skanderbeg, dem albanischen Nationalhelden, der Mitte des 15. Jahrhunderts Albanien von den Ottomanen befreite. Die Besatzungen Tiranas durch Fremde sind Legion. Monarchie, Protektorat, besetztes Gebiet, Republik, Diktatur… es war wirklich alles dabei. Ich versuche besser nicht, das zusammenzufassen, denn ich würde viel durcheinander bringen. Aber es ist eine unglaublich spannende Geschichte, die es lohnt, noch einmal nachzulesen. Zumal es auch eine Königin Geraldine gab, die sehr verehrt wurde und bis heute noch wird.
Knapp 10.000 Schritte später hatte ich nicht nur viel über die albanische Geschichte erfahren, sondern auch die wichtigsten Sehenswürdigkeiten Tiranas erlaufen. Bazar, Uhrturm, Moscheen, Regierungsgebäude, Bunker, Monumente, die Überreste des alten Kastells, Enver Hoxhas Mausoleum und vieles vieles mehr. Und all das bei hochsommerlichen Temperaturen. Es war eine tolle Tour, daher ließ ich mich am Ende auch nicht lumpen. Einen so persönlichen und informativen Stadtrundgang hatte ich noch nie. Koli war z.B. leibhaftig beim Sturz der Statue Enver Hoxhas 1991 dabei. Sein Großvater wurde als Widerständler im Krieg von den deutschen Besatzern hingerichtet. Solltet ihr je nach Tirana kommen, bucht auf jeden Fall ihn für eine Stadtführung!
Nach der Tour erklomm ich noch das Mausoleum, das den Leichnam von Enver Hoxha allerdings nie gesehen hat, er wurde andernorts begraben. Es ist die Touristenattraktion schlechthin. Dann wurde es Zeit für ein Bier, dass ich im Millennium Garden zu mir nahm, wo die Kellner „posher“ waren als das Publikum und das Bier entsprechend teuer – aber super erfrischend.
Apropos posh: die jungen albanischen Männer der Hauptstadt sehen fast alle aus wie der in Deutschland erfolgreiche albanische Rapper Dardan (der mit dem markanten Pony) und das Tragen von Jogginganzügen ist das ultimative modische Statement. Tirana scheint mir eine sehr junge Stadt, auch die jungen Frauen achten sehr auf ihren Style. Nein, nicht mit Jogginganzügen, die brezeln sich eher klassisch „en vogue“ auf. Das resultiert in manchmal skurrilen Bildern, wenn eine junge Frau (die gemäß Evita „dressed up to the nines“ ist) Arm in Arm mit einem Typen den Boulevard entlang flaniert, der mit einem möglicherweise sehr teuren, aber immer noch… je nun, Jogginganzug bekleidet ist. Ich finde das, im Gegensatz zu Karl Lagerfeld, allerdings wunderbar! Rauchen scheint übrigens auch eine Art Statement zu sein, es gibt hier fast niemanden, der nicht qualmt.
Nach dem wohlverdienten Bierchen enterte ich die Überreste des alten Kastells. Was soll ich sagen? Draußen die Überreste der Mauer, drinnen nix Kastell. Einfach nur eine schicke Fressgasse. Ein Restaurant nach dem anderen, von Zeit zu Zeit aufgelockert durch hochpreisige Souvenirshops. Gegenüber dann der Konsumtempel Toptani, mit vielen Edelboutiquen, Juwelieren und Läden mit Luxusartikeln. Bis zur dritten Etage habe ich es geschafft, die anderen vier habe ich mir erspart, um im Basement im Supermarkt nach Keksen und Wein zu schauen. Ganz offensichtlich auch Luxusartikel. Aber YOLO, wie es vor Urzeiten bei der Jugend hieß, man lebt nur einmal und ich schlug zu. Immerhin sind die Tragetaschen hier noch umsonst.
Ich brauchte eine Pause und legte mich für eine Dreiviertelstunde im Hotel aufs Bett. Als ich es wieder verließ, um über den Basar zu schlendern, begegnete ich Katie, der Managerin. Sie würde meine Rechnung fertig machen und ins Restaurant legen. Das hat mich etwas überrascht, da ich ja eine Pauschalreise gebucht hatte. Sie schien genauso überrascht, sie ging davon aus, dass ich selbst gebucht hätte. Ich bin gespannt, ob und wie sich das klärt.
Der Basar war dann zur Hälfte schon abgebaut, ich werde wohl an einem anderen Tag noch einmal dorthin gehen. Ich lief etwas ziellos durch die Stadt, in der es schon mächtig dämmerte. Ich lief an einer orthodoxen Kirche vorbei, am Casino von Tirana, am Jugendpark sowie der zweiten internationalen Automobilmesse, bis ich am Mutter-Teresa-Platz auskam. Auf dem Weg sah ich viele Gebäude, die mir Koli schon erklärt hatte, aber da ich ein alter Mann bin, habe ich von der Hälfte vergessen, wofür Sie sind oder was sie darstellen.
Inzwischen war ich ziemlich hungrig, und ließ mich in einem der Restaurants nieder, die Koli mir auf unserem Stadtrundgang empfohlen hatte. Praktischerweise ziemlich nah am Hotel. Ich aß Köfte, Sucuk, Fritten und Simit mit traditioneller Joghurtsoße. Natürlich alles albanisch benannt, siehe Kassenzettel. Hier kam ich wieder extrem preiswert davon. Im Hintergrund spielte eine Band Livemusik. Das war so lange nett, bis die Nachbarkneipen auch ihre Livemusiker auftreten ließen, man saß unter einer kakophonischen Kuppel.
Resümee des heutigen Tages: Was für eine faszinierende Stadt. Dieses Durcheinander von alt und neu, diese Quirligkeit, die Historie, das öffentliche Leben. Abends z.B. scheint ganz Tirana auf den Beinen, eine Art Passeggiata auf albanisch. Und alles in mediterranem Tempo. Ich mag es. Obwohl es auch eine sehr laute Stadt ist.
Und was ich heute alles erlebt und erfahren und nicht erzählt habe. Vom mysteriösen Tod eines Premierministers, von der Spitzbübigkeit des Stadtgründers, von bettelnden Kindern, von protzigen Luxusschlitten, von religiösen Skurrilitäten (der Schweineschlachter an der Moschee) oder die misstrauisch beäugte Präsenz Erdoğans.
Morgen darf ich im Restaurant frühstücken, sofern mich Katie nicht rausschmeißt. Ich überlege, in die Berge zu fahren. Da gibt es die schon erwähnte Seilbahn. Wenn Ihr abends nichts von mir hört, habe ich in dem Ding vor Angst meinen letzten Atemzug getan. Teilt Ihr Euch das Taxi mit mir? Ich zahle.
Liebe Grüße aus Tirana,
Euer Gerry
Du schreibst wunderbar!!
Vielen Dank
😍😘😘😘